Seite:De Zerstreute Blätter II (Herder) 118.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Vaters sagen wollte. – Wenn eben diese Sappho einer verstorbnen Braut die Grabschrift setzt: b)[1]

„Dies ist der Timas Asche. Vor der Hochzeit gestorben,
ging sie ins dunkle Brautbett der Proserpina hinunter.
Alle Mädchen von gleichem Alter schnitten, da sie todt war,
sich die liebliche Locke des Hauptes ab mit neugeschliffenem Stahl.“

so wird, dünkt mich, das Grab der Braut durch diese simple Exposition mehr gefeiret, als durch lange Lobsprüche von Sentenzen. Das Brautbett der Jungfrau hat sich eben vor ihrer Hochzeitfreude ins dunkle Bett der Proserpina verwandelt; d. i. sie ward wie jene die Braut des Orkus. Alle ihre Gespielinnen fühlen das Traurige dieses Falles und weihn voll mitleidigen Schreckens ihrer todten Freundin den Schmuck ihrer jungfäulichen Jugend. Statt sich zu ihrem Feste zu krönen, liegt jetzt die Locke auf ihrem


  1. b) ib.
Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Zweite Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1786, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_II_(Herder)_118.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)