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auf alle Empfindungen, auf die es seiner Natur nach wirken konnte, bis es den Umfang derselben erfüllet hätte und dies wäre das Ziel der Aufschrift. Ueberdem sind Erwartung und Aufschluß dem Epigramm nicht ausschließend eigen; sie müssen bei einem jeden Werk, das die menschliche Seele unterhalten soll, statt finden. Wehe der Epopee, dem Drama, ja selbst wehe der Geschichte, der philosophischen Abhandlung, sogar dem mathematischen Lehrsatz, der keine Erwartung zu erregen weiß oder diese nicht durch einen völligen Aufschluß befriedigt! Wehe aber auch einem jeden Werk der Kunst und Dichtkunst, oder des Unterrichts und der Lehre, das nur Erwartung erregen und in ihr die Neugierde befriedigen wollte: denn überall müssen diese Empfindungen nur Ingredientien seyn und bleiben. Sie sind das weiche, lockere Band, das bald länger bald kürzer gehalten, das mehr oder minder angestrengt, sowohl die Theile des Werks, als unsre Empfindungen zwar verbindet, nicht aber sie ausmacht.

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Zweite Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1786, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_II_(Herder)_110.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)