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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

betraten also zum mindesten keinen neuen Boden, kein neues zweifelhaftes Gebiet.“ – „Und welch kleiner Schritt“, bemerkte Palvi, „welch natürlicher Übergang ist vom historischen Drama, wie wir es bei Goethe finden, zum modernen geschichtlichen Romane. Sie sind ihm schon um vieles näher als die historischen Schauspiele Shakespeares. Wie im Romane sprechen dort die Helden nicht großartige Gefühle aus. Sie halten nicht gedehnte Reden, sondern ihre Reden erzählen von den schlummernden Entschlüssen ihrer Seele, und wir erblicken in einer einzelnen Wendung Motive, ahnen Handlungen, die sich nachher verwirklichen.

Die Völker scheinen sich in unsern Tagen zu scheiden und scharf abzugrenzen; doch diese Scheidung ist nur scheinbar, denn die Menschheit ist durch so viele Erfindungen sich näher gerückt worden. Wir gehören mehr und mehr der Welt an. Wir sprechen von entfernten Polarländern oder von Amerika mit einer Bestimmtheit, einem Gefühle der Nähe, wie unsre Großväter von Frankreich sprachen. Wir sind jetzt erst Europäer geworden. Darum ist uns nichts mehr fremd, was in diesem alten Weltteile geschieht. Der Unterschied der Sprache hat aufgehört, denn, Dank sei es unsern gewandten Übersetzern, es ist, als ob Scott und Irving[1] in Frankfurt oder Leipzig lebten.“

„Gewiß!“ fiel Rempen ein, „auch in der Gesellschaft sind sich die verschiedenartigsten Elemente näher getreten. Unsere jungen Männer erzählen jetzt von einer Reise nach London oder Rom mit mehr Bescheidenheit oder Gleichgültigkeit, als sonst einer von einer Reise an einen zwanzig Meilen entfernten Hof erzählte. Aber ist uns durch alles dies, da wir in einer so breiten Gegenwart leben, die Geschichte nicht viel mehr fern, als nahe gerückt?“

„Ich gebe zu“, sagte der Alte, „das ernste Studium der Historie, aber nicht das rein menschliche Interesse daran. Die Geschichte war sonst die Geschichte der Könige, und an ihre oft unbedeutende Person knüpfte sich das Leben unsterblicher Männer. Die neuere Zeit, so große Veränderungen um uns her, [417] haben uns anders denken gelehrt. Es ist die Geschichte der Meinungen, es sind die Schicksale gewisser Prinzipien, die wir kennen lernen möchten. Ihr Kampf erscheint in jedem Zeitalter mehr oder minder und unter der verschiedensten Gestalt, und dieser Kampf der Meinungen ist es, was jeder Periode ihr Interesse gibt, er ist es, der, dem Romane zum Grunde gelegt, unsere Teilnahme auf unbeschreibliche Weise anzieht.“

„Ich ahne, daß Sie recht haben“, erwiderte der Stallmeister; „gleichwohl kann ich diese Idee meinen bisherigen Ansichten noch nicht recht anpassen. Denn wie vertragen sich zum Beispiel mit dieser welthistorischen Ansicht jene sonderbaren Figuren Walter Scotts, die bald als rohe Hochländer, bald als Räuber, als Fischer in die Geschichte unmittelbar eingreifen und so anziehend erscheinen?“

„Das ist es ja gerade, was ich sagte“, antwortete der Magister. „Wir ahnen in der Geschichte des Landes und des Volkes, die uns Professoren auf Kathedern vortragen, daß es nicht immer die Könige und ihre Minister waren, die Großes, Wunderbares, Unerwartetes herbeiführten. Da oder dort hat die Tradition den Schatten, den Namen eines Mannes aufbehalten, von dem die Sage geht, er habe großen und geheimnisvollen Anteil an wichtigen Ereignissen gehabt. Solche Schatten, solche fabelhafte Wesen schafft die Phantasie des Dichters zu etwas Wirklichem um; in den Mund eines solchen Menschen, in sein und seiner Verbündeten geheimnisvolles Treiben legt er die Idee, legt er den Keim zu Taten und Geschichten, die man im Handbuch nur als geschehen nachliest, vergebens nach ihren Ursachen forschend. Indem solche Figuren die Ideen persönlich vorstellen, bereiten sie dem Leser hohen Genuß und oft ein um so romantischeres Interesse, je unscheinbarer sie durch Bildung und die Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft anfänglich erscheinen.“

„Und so hielten Sie es für möglich, daß auch die deutsche Geschichte interessante Stoffe für historische Romane bieten könnte?“ fragte Rempen. „Mir schien sie immer zu zerrissen, zu flach, zu wenig romantisch und großartig.“

„Das letztere glaube ich nicht“, erwiderte Palvi; „und muß denn gerade der Hintergrund, das historische Faktum das Erhabene


  1. Die Werke Walter Scotts und ebenso die des englisch-amerikanischen Humoristen und Sittenschilderers Washington Irving (1783–1859) wurden damals in zahllosen, oft gleichzeitig mit den Originalen erscheinenden Übersetzungen in Deutschland verbreitet und gelesen.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 416–417. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_209.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)