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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Frühlingsmorgen fanden wir sie tot. Was soll ich Sie von meinen Marterjahren unterhalten, die jetzt anfingen? Ich war eilf Jahre alt und sollte die Haushaltung führen, die kleinen Geschwister erziehen und dabei noch singen lernen für die Konzerte! O, es war eine Qual der Hölle!

Um diese Zeit kam oft ein Herr zu uns, der dem Vater immer einen Sack voll Fünffrankenstücke mitbrachte. Ich kann nicht ohne Grauen an ihn denken. Es war ein großer, hagerer Mann von mittlerem Alter; er hatte kleine, blinzende, graue Augen, die ihn durch ihren unangenehmen, stechenden Ausdruck vor allen Menschen, die ich je gesehen, auszeichneten. Mich schien er besonders liebgewonnen zu haben. Er lobte, wenn er kam, meine Größe, meinen Anstand, mein Gesicht, meinen Gesang. Er setzte mich auf seine Knie, obgleich mich ein unwillkürliches Grauen von ihm wegdrängte; er küßte mich trotz meines Schreiens, er sagte wohlgefällig: ‚Noch zwei – drei Jahr’, dann bist du fertig, Schepperl!‘ Und er und mein Stiefvater brachen in ein wildes Lachen bei dieser Prophezeiung aus. An meinem fünfzehnten Geburtsfest sagte mein Stiefvater zu mir: ‚Höre, Schepperl: du hast nichts, du bist nichts, ich geb’ dir nichts, ich will nichts von dir, habe auch hinlänglich genug an meinen drei übrigen Rangen; die Christel (meine Schwester) wird jetzt statt deiner das Wunderkind. Was du hast, dein bißchen Gesang, hast du von mir, damit wirst du dich fortbringen. Der Onkel in Paris will dich übrigens aus Gnade in sein Haus aufnehmen.‘ – ‚Der Onkel in Paris?‘ rief ich staunend, denn bisher wußte ich nichts von einem solchen. ‚Ja, der Onkel in Paris‘, gab er zur Antwort, ‚er kann alle Tage kommen.‘

Sie können sich denken, wie ich mich freute; es ist jetzt drei Jahre her, aber noch heute ist die Erinnerung an jene Stunden so lebhaft in mir, als wäre es gestern gewesen. Das Glück, aus dem Hause meines Vaters zu kommen, das Glück, meinen Onkel zu sehen, der sich meiner erbarme, das Glück, nach Paris zu kommen, wo ich mir den Sitz des Putzes und der Seligkeit dachte, ich war berauscht von so vielem Glück; so oft ein Wagen fuhr, sah ich hinaus, ob nicht der Onkel komme, mich in sein Reich abzuholen. Endlich fuhr eines Abends ein Wagen vor [351] unserem Hause vor. ‚Das ist dein Onkel‘, rief der Vater; ich flog hinab, ich breitete meine Arme aus nach meinem Erretter – grausame Täuschung! Es war der Mann mit den Fünffrankenstücken.

Ich war beinahe bewußtlos in jenen Augenblicken, aber dennoch vergesse ich die teuflische Freude nie, die aus seinen grauen Augen blitzte, als er mich hoch aufgewachsen fand; noch immer klingt mir seine krächzende Stimme in den Ohren: ‚Jetzt bist du recht, mein Täubchen, jetzt will ich dich einführen in die große Welt.‘ Er faßte mich mit der Hand, mit der andern warf er einen Geldsack auf den Tisch; der Sack fuhr auf, ein glänzender Regen von Silber- und Goldstücken rollte auf den Boden; meine drei kleine Geschwister und der Vater jubelten, rutschten auf dem Boden umher und lasen die Stücke auf – es war – mein Kaufpreis.

Schon den folgenden Tag ging es nach Paris. Der hagere Mann, ich vermochte es nicht, ihn Onkel zu nennen, predigte mir beständig vor, welch glänzende Rolle ich in seinem Salon spielen werde. Ich konnte mich nicht freuen, eine Angst, eine unerklärliche Bangigkeit waren an die Stelle meiner Freude, meines Glückes getreten. Vor einem großen, erleuchteten Hause hielt der Wagen; wir waren in Paris. Zehn bis zwölf schöne, allerliebste Mädchen hüpften die breiten Treppen herab, uns entgegen. Sie herzten und küßten mich und nannten mich Schwester Giuseppa; ich fragte den Hagern: ‚Sind dies Ihre Töchter, mein Herr?‘ – ‚Oui, mes bonnes enfants‘, rief er lachend, und die Mädchen und die zahlreiche Dienerschaft stimmten ein mit einem rohen, schallenden Gelächter.

Schöne Kleider, prachtvolle Zimmer zerstreuten mich. Ich wurde am folgenden Abend herrlich gekleidet; man führte mich in den Salon. Die zwölf Mädchen saßen im schönsten Putz an Spieltischen, auf Kanapees, am Flügel. Sie unterhielten sich mit jungen und älteren Herren sehr lebhaft. Als ich eintrat, brachen alle auf, gingen mir entgegen und betrachteten mich. Der Herr des Hauses führte mich zum Flügel, ich mußte singen; allgemeiner Beifall wurde mir zu teil; man zog mich ins Gespräch, meine ungebildeten, halb italienischen Ausdrücke galten für Naivetät;

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 350–351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_176.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)