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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Die Sängerin Bianetti, für welche der Doktor endlich ein Stündchen erübrigt hatte, war düster und niedergeschlagen, als seie keine Hoffnung mehr für sie auf Erden. Ihr Auge war trübe, sie mußte viel geweint haben, die Wunde war über alle Erwartung gut; aber mit ihrem zunehmenden körperlichen Wohlbefinden schien die Ruhe und Gesundheit ihrer Seele zu schwinden. „Ich habe lange darüber nachgedacht“, sagte sie, „und fand, daß Sie, lieber Doktor, doch auf höchst sonderbare Weise in mein Schicksal verwebt werden. Ich kannte Sie vorher nicht; ich gestehe, ich wußte kaum, daß ein Medizinalrat Lange in B. existiere. Und jetzt, da ich mit einem Schlage so unglücklich geworden bin, sendet mir Gott einen so teilnehmenden, väterlichen Freund zu.“

„Mademoiselle Bianetti“, erwiderte Lange, „der Arzt hat an manchem Bette mehr zu tun, als nur den Puls an der Linken zu fühlen, Wunden zu verbinden und Mixturen zu verschreiben. Glauben Sie mir, wenn man so allein bei einem Kranken sitzt, wenn man den inneren Puls der Seele unruhig pochen hört, wenn man Wunden verbinden möchte, die niemand siehet, da wird auf wunderbare Weise der Arzt zum Freunde, und der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Körper und Seele scheint auch in diesem Verhältnisse auffallend zu wirken.“

„So ist es“, sprach Giuseppa, indem sie zutraulich seine Hand faßte; „so ist es, und auch meine Seele hat einen Arzt gefunden. Sie werden vielleicht viel für mich tun müssen. Es möchte sein, daß sie sogar vor den Gerichten in meinem Namen handeln müssen. Wenn Sie einem armen Mädchen, das sonst gar keine Stütze hat, dieses große Opfer bringen wollen, so will ich mich Ihnen entdecken.“

„Ich will es tun“, sprach der freundliche Alte, indem er ihre Hand drückte.

„Aber bedenken Sie es wohl; die Welt hat meinen Ruf angegriffen, sie klagt mich an, sie richtet, sie verdammt mich. Wenn nun die Menschen auch auf Sie höhnisch deuten, daß Sie der verrufenen Sängerin, der schlechten Italienerin, ach! meiner sich angenommen haben, werden Sie das ertragen können?“

„Ich will es“, rief der Doktor mit Ernst und Heftigkeit. „Erzählen Sie!“


[349] „Mein Vater“, erzählte die Sängerin, „war Antonio Bianetti, ein berühmter Violinspieler, der Ihnen aus jüngern Jahren nicht unbekannt sein kann, denn sein Ruf hatte durch die Konzerte, die er an Höfen und in großen Städten gab, sich überall verbreitet. Ich kann mir ihn nur noch aus meiner frühesten Kindheit denken, wie er mir die Skala vorgeigte, die ich schon im dritten Jahre sehr richtig nachsang. Meine Mutter war zu ihrer Zeit eine vorzügliche Sängerin gewesen und pflegte in den Konzerten des Vaters einige Arien und Kanzonetten vorzutragen. Ich war vier Jahre alt, als mein Vater auf der Reise starb und uns in Armut zurückließ. Meine Mutter mußte sich entschließen, durch Singen uns fortzubringen. Sie heiratete nach einem Jahre einen Musiker, der ihr von Anfang sehr geschmeichelt haben soll, nachher aber zeigte es sich, daß er sie nur geheiratet, um ihre Stimme zu benützen. Er wurde Musikdirektor in W–b–g, einer kleinen deutschen* Stadt in Frankreich, und da fing erst unser Leiden recht an.

„Meine Mutter bekam noch drei Kinder und verlor ihre Stimme so sehr, daß sie beinahe keinen Ton mehr singen konnte. Dadurch war die größte Geldquelle meines Stiefvaters versiegt, denn seine Konzerte waren nur durch meine Mutter glänzend und zahlreich gewesen. Er plagte sie von jetzt an schrecklich; mir wollte er gar nicht mehr zu essen geben, bis er endlich auf ein Mittel verfiel, mich brauchbar zu machen. Er marterte mich ganze Tage lang und geigte mir die schwersten Sachen von Mozart, Gluck, Rossini und Spontini ein, die ich dann Sonntag abends mit großem Applaus absang; das arme Schepperl, so hatte man meinen Namen Giuseppa verketzert, wurde eines jener unglücklichen Wunderkinder, denen die Natur ein schönes Talent zu ihrem größten Unglück gegeben hat; der Grausame ließ mich alle Tage singen, er peitschte mich, er gab mir tagelang nichts zu essen, wann ich nicht richtig intoniert hatte; die Mutter aber konnte meine Qualen nicht mehr lange sehen, es war, als ob ihr Leben in ihren stillen Tränen dahinfließe; an einem schönen


* Wahrscheinlich im Elsaß. D. H.[1]


  1. D. h. Hauff.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 348–349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_175.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)