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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

unterbrach ihn der Arzt. „Will Er mit Gewalt wieder seine Zufälle bekommen?“

„Er hat recht“, sagte der Kommerzienrat Bolnau und fuhr schnell mit dem Tuch in die Tasche; „Er hat recht; meine Konstitution ist nicht für den Affekt. Erzähl’ Er nur weiter, ich werde die Tafelscheiben am Kriegsministerio im Vorbeigehen zählen, das hilft gegen solche Anfälle.“

„Zähl’ Er nur, und wenn es nicht hilft, so kann Er auch noch den obern Stock des Palais mitnehmen. Die alte Magd nahm das Tuch weg, und mit Erstaunen erblickte ich eine Wunde wie von einem Messerstich, die dem Herzen sehr nahe war. Es war nicht Zeit, mich mit Fragen aufzuhalten, so viele derselben mir auch auf der Zunge schwebten, ich untersuchte die Wunde und legte den Verband um. Die Verwundete hatte während der ganzen Operation kein Zeichen von Leben gezeigt; nur, als ich die Wunde sondierte, war sie schmerzlich zusammengezuckt. Ich ließ sie ruhen und bewachte ihren Schlummer.“

„Aber das Mädchen und die alte Magd, hat Er denn diese nicht gefragt, woher die Wunde rühre?“

„Ich will es Ihm nur gestehen, Kommerzienrat, weil Er mein alter Freund ist; ja, als für die Kranke im Augenblick nichts mehr zu tun war, habe ich ihnen rund genug erklärt, daß ich weiter keine Hand mehr an die Dame legen werde, wenn sie mir nicht alles beichten.“

„Und was sagten sie? So sprech’ Er doch!“

„Nach eilf Uhr war die Sängerin zu Hause gekommen, und zwar von einer großen männlichen Maske begleitet. – Ich mochte bei dieser Nachricht die beiden Weiber etwas sehr zweideutig angesehen haben, denn sie fingen aufs neue an zu weinen und beteuerten mir mit den außerordentlichsten Schwüren, ich solle doch nichts Schlechtes von ihrer Herrschaft denken; es sei die lange Zeit, seit sie ihr dienen, nie nach vier Uhr abends ein Mann über ihre Schwelle gekommen; das kleinere Mädchen, das wohl Romane mußte gelesen haben, wollte sogar behaupten, Signora sei ein Engel von Reinheit.“

„Das behaupte ich auch“, sagte der Kommerzienrat, indem er gerührt die Scheiben des Palais, dem sie sich näherten, zu [335] zählen anfing; „das sagte ich auch; der Bianetti kann man nichts Böses nachsagen, sie ist ein liebes, frommes Kind, und was kann sie denn davor, daß sie schön ist und ihr Leben durch Gesang fristen muß?“

„Glaub’ Er mir“, entgegnete Lange, „ein Arzt hat hierin einen untrüglichen psychologischen Maßstab. Ein Blick auf die engelreinen Züge des unglücklichen Mädchens überzeugte mich mehr von ihrer Tugend als die Schwüre ihrer Zofen. Doch höre Er weiter: die Sängerin trat mit dem Fremden in dieses Zimmer und hieß ihr Mädchen hinausgehen. Diese war vielleicht aus Neugierde, was wohl dieser nächtliche Besuch zu bedeuten habe, der Türe nahe geblieben; sie hörte einen heftigen Wortwechsel, der zwischen ihrer Dame und einer tiefen, hohlen Männerstimme in französischer Sprache geführt wurde; Signora sei endlich in heftiges Weinen ausgebrochen, der Mann habe schrecklich geflucht; plötzlich hörte sie ihre Dame einen gellenden Schrei ausstoßen, sie kann sich vor Angst nicht mehr zurückhalten, reißt die Türe auf, und in demselbem Augenblicke fährt die Maske an ihr vorbei und durch den Gang an die Treppe. Sie folgt ihm einige Schritte, vor der Treppe hört sie ein schreckliches Gepolter, er mußte hinuntergestürzt sein. Von unten dringt ein Ächzen und Stöhnen herauf wie das eines Sterbenden, aber es graut ihr, sie wagt keinen Schritt weiter vorzugehen. Sie geht zurück in die Türe – die Sängerin liegt in ihrem Blute und schließt nach wenigen Augenblicken die Augen. Das Mädchen weiß sich nicht zu raten, sie weckt die alte Magd, ihrer Herrschaft einstweilen beizustehen, und springt zu mir, um vielleicht Signora noch zu retten.“

„Und die Bianetti hat noch nichts geäußert? Hat Er sie nicht befragt?“

„Ich ging sogleich auf die Polizei und weckte den Direktor; er ließ noch um Mitternacht alle Gasthöfe, alle Gassenkneipen, alle Winkel der Stadt durchsuchen; aus dem Tore ist in jener Stunde niemand passiert, und von jetzt an wird jedermann strenge untersucht. Die Hausleute, die im obern Stock wohnen, erfuhren die ganze Sache erst, als die Polizei das Haus durchsuchte; unbegreiflich war es, wie der Mörder entspringen konnte, da er

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 334–335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_168.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)