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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Das Fest der Unterirdischen.
Norwegisches Märchen nach mündlicher Überlieferung.

„Herr! ich bin aus einem Lande, das weit gegen Mitternacht liegt, Norwegen genannt, wo die Sonne nicht, wie in deinem gesegneten Vaterlande, Feigen und Zitronen kocht, wo sie nur wenige Monde über die grüne Erde scheint und ihr im Flug sparsame Blüten und Früchte entlockt. Du sollst, wenn es dir angenehm ist, ein paar Märchen hören, wie man sie bei uns in den warmen Stuben erzählt, wenn das Nordlicht über die Schneefelder flimmert.“[1]

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Noch waren die jungen Männer im Gespräch über diese Märchen und über den Alten, den Derwisch Mustapha. Sie fühlten sich nicht wenig geehrt, daß ein so alter und berühmter Mann sie seiner Aufmerksamkeit gewürdigt und sogar öfters mit ihnen gesprochen und gestritten hatte. Da kam plötzlich der Aufseher der Sklaven zu ihnen und lud sie ein, ihm zum Scheik zu folgen, der sie sprechen wolle. Den Jünglingen pochte das Herz. Noch nie hatten sie mit einem so vornehmen Mann gesprochen, nicht einmal allein, viel weniger in so großer Gesellschaft. Doch sie faßten sich, um nicht als Toren zu erscheinen, und folgten dem Aufseher der Sklaven zum Scheik. Ali Banu saß auf einem reichen Polster und nahm Sorbet zu sich. Zu seiner Rechten saß der Alte, sein dürftiges Kleid ruhte auf herrlichen Polstern, seine ärmlichen Sandalen hatte er auf einen reichen Teppich von persischer Arbeit gestellt; aber sein schöner Kopf, sein Auge voll Würde und Weisheit zeigte an, daß er würdig sei, neben einem Mann wie der Scheik zu sitzen.

Der Scheik war sehr ernst, und der Alte schien ihm Trost und Mut zuzusprechen. Die Jünglinge glaubten auch in ihrem Ruf vor das Angesicht des Scheik eine List des Alten zu entdecken, der wahrscheinlich den trauernden Vater durch ein Gespräch mit ihnen zerstreuen wollte.

„Willkommen, ihr jungen Männer“, sprach der Scheik, „willkommen [95] in dem Hause Ali Banus! Mein alter Freund hier hat sich meinen Dank verdient, daß er euch hier einführte; doch zürne ich ihm ein wenig, daß er mich nicht früher mit euch bekannt machte. Wer von euch ist denn der junge Schreiber?“

„Ich, o Herr! und zu Euren Diensten!“ sprach der junge Schreiber, indem er die Arme über der Brust kreuzte und sich tief verbeugte.

„Ihr hört also gerne Geschichten und leset gerne Bücher mit schönen Versen und Denksprüchen?“

Der junge Mann erschrak und errötete; denn ihm fiel bei, wie er damals den Scheik bei dem Alten getadelt und gesagt hatte, an seiner Stelle würde er sich erzählen oder aus Büchern vorlesen lassen. Er war dem schwatzhaften Alten, der dem Scheik gewiß alles verraten hatte, in diesem Augenblick recht gram, warf ihm einen bösen Blick zu und sprach dann: „O Herr! Allerdings kenne ich für meinen Teil keine angenehmere Beschäftigung, als mit dergleichen den Tag zuzubringen. Es bildet den Geist und vertreibt die Zeit. Aber jeder nach seiner Weise! Ich tadle darum gewiß keinen, der nicht –“

„Schon gut, schon gut“, unterbrach ihn der Scheik lachend und winkte den zweiten herbei. „Wer bist denn du?“ fragte er ihn.

„Herr, ich bin meines Amtes der Gehülfe eines Arztes und habe selbst schon einige Kranke geheilt.“

„Richtig“, erwiderte der Scheik, „und Ihr seid es auch, der das Wohlleben liebet; Ihr möchtet gerne mit guten Freunden hie und da tafeln und guter Dinge sein? Nicht wahr, ich habe es erraten?“

Der junge Mann war beschämt; er fühlte, daß er verraten war, und daß der Alte auch von ihm dem Scheik gebeichtet haben mußte. Er faßte sich aber ein Herz und antwortete: „O ja, Herr, ich rechne es unter des Lebens Glückseligkeiten, hie und da mit guten Freunden fröhlich sein zu können. Mein Beutel reicht nun zwar nicht weiter hin, als meine Freunde mit Wassermelonen oder dergleichen wohlfeilen Sachen zu bewirten; doch sind wir auch dabei fröhlich, und es läßt sich denken, daß wir es noch um ein gutes Teil mehr wären, wenn ich mehr Geld hätte.“

Dem Scheik gefiel diese beherzte Antwort, und er konnte sich


  1. Es folgt nun das genannte Märchen und nach diesem „Schneeweißchen und Rosenrot“. Nach diesen beiden Märchen W. Grimms fährt Hauff dann wie oben fort.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 94–95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_048.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)