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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

„Gerade, weil ich dies nicht gefunden habe, denke ich gerne gut von den Menschen“, antwortete dieser. „Es ging mir gerade wie euch. Ich lebte so in den Tag hinein, hörte viel Schlimmes von den Menschen, mußte selbst an mir viel Schlechtes erfahren und fing an, die Menschen alle für schlechte Geschöpfe zu halten. Doch da fiel mir bei, daß Allah, der so gerecht ist als weise, nicht dulden könnte, daß ein so verworfenes Geschlecht auf dieser schönen Erde hause. Ich dachte nach über das, was ich gesehen, was ich erlebt hatte, und siehe – ich hatte nur das Böse gezählt und das Gute vergessen. Ich hatte nicht achtgegeben, wenn einer eine Handlung der Barmherzigkeit übte, ich hatte es natürlich gefunden, wenn ganze Familien tugendhaft lebten und gerecht waren. So oft ich aber Böses, Schlechtes hörte, hatte ich es wohl angemerkt in meinem Gedächtnis. Da fing ich an, mit ganz anderen Augen um mich zu schauen. Es freute mich, wenn ich das Gute nicht so sparsam keimen sah, wie ich anfangs dachte; ich bemerkte das Böse weniger, oder es fiel mir nicht so sehr auf, und so lernte ich die Menschen lieben, lernte Gutes von ihnen denken, und habe mich in langen Jahren seltener geirrt, wenn ich von einem Gutes sprach, als wenn ich ihn für geizig, oder gemein oder gottlos hielt.“

Der Alte wurde bei diesen Worten von dem Aufseher der Sklaven unterbrochen, der zu ihm trat und sprach: „Mein Herr, der Scheik von Alessandria, Ali Banu, hat Euch mit Wohlgefallen in seinem Saale bemerkt und ladet Euch ein, zu ihm zu treten und Euch neben ihn zu setzen.“

Die jungen Leute waren nicht wenig erstaunt über die Ehre, die dem Alten widerfahren sollte, den sie für einen Bettler gehalten, und als dieser hingegangen war, sich zu dem Scheik zu setzen, hielten sie den Sklavenaufseher zurück, und der Schreiber fragte ihn: „Beim Bart des Propheten beschwöre ich dich, sage uns: wer ist dieser alte Mann, mit dem wir sprachen und den der Scheik also ehrt?“

„Wie!“ rief der Aufseher der Sklaven und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen; „Diesen Mann kennet ihr nicht?“

„Nein, wir wissen nicht, wer er ist.“

[93] „Aber ich sah euch doch schon einigemal mit ihm auf der Straße sprechen, und mein Herr, der Scheik, hat dies auch bemerkt und erst letzthin gesagt: Das müssen wackere junge Leute sein, die dieser Mann eines Gespräches würdigt.“

„Aber so sage doch, wer es ist!“ rief der junge Kaufmann in höchster Ungeduld.

„Gehet, ihr wollet mich nur zum Narren haben“, antwortete der Sklavenaufseher. „In diesen Saal kommt sonst niemand, wer nicht ausdrücklich eingeladen ist, und heute ließ der Alte dem Scheik sagen, er werde einige junge Männer in seinen Saal mitbringen, wenn es ihm nicht ungelegen sei, und Ali Banu ließ ihm sagen, er habe über sein Haus zu gebieten!“

„Lasse uns nicht länger in Ungewißheit! So wahr ich lebe, ich weiß nicht, wer dieser Mann ist. Wir lernten ihn zufällig kennen und sprachen mit ihm.“

„Nun, dann dürfet ihr euch glücklich preisen; denn ihr habt mit einem gelehrten, berühmten Mann gesprochen, und alle Anwesenden ehren und bewundern euch deshalb. Es ist niemand anderes, als Mustapha, der gelehrte Derwisch.“

„Mustapha! der weise Mustapha, der den Sohn des Scheik erzogen hat, der viele gelehrte Bücher schrieb, der große Reisen machte in alle Weltteile? Mit Mustapha haben wir gesprochen? Und gesprochen, als wär’ er unsereiner, so ganz ohne alle Ehrerbietung?“

So sprachen die jungen Männer untereinander und waren sehr beschämt; denn der Derwisch Mustapha galt damals für den weisesten und gelehrtesten Mann im ganzen Morgenland.

„Tröstet euch darüber“, antwortete der Sklavenaufseher, „seid froh, daß ihr ihn nicht kanntet; er kann es nicht leiden, wenn man ihn lobt, und hättet ihr ihn ein einzigesmal die Sonne der Gelehrsamkeit oder das Gestirn der Weisheit genannt, wie es gebräuchlich ist bei Männern dieser Art, er hätte euch von Stund’ an verlassen. Doch ich muß jetzt zurück zu den Leuten, die heute erzählen. Der, der jetzt kommt, ist tief hinten in Frankistan gebürtig, wollen sehen, was er weiß.“

So sprach der Sklavenaufseher; der aber, an welchen jetzt die Reihe zu erzählen kam, stand auf und sprach:

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 92–93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_047.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)