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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

„Das will ich Euch jetzt sagen“, erwiderte der Alte. „Der menschliche Geist ist noch leichter und beweglicher als das Wasser, das doch in alle Formen sich schmiegt und nach und nach auch die dichtesten Gegenstände durchdringt. Er ist leicht und frei wie die Luft und wird wie diese, je höher er sich von der Erde hebt, desto leichter und reiner. Daher ist ein Drang in jedem Menschen, sich hinauf über das Gewöhnliche zu erheben und sich in höheren Räumen leichter und freier zu bewegen, sei es auch nur in Träumen. Ihr selbst, mein junger Freund, sagtet: ‚Wir lebten in jenen Geschichten, wir dachten und fühlten mit jenen Menschen‘, und daher kommt der Reiz, den sie für Euch hatten. Indem Ihr den Erzählungen des Sklaven zuhörtet, die nur Dichtungen waren, die einst ein anderer erfand, habt Ihr selbst auch mitgedichtet. Ihr bliebet nicht stehen bei den Gegenständen um Euch her, bei Euren gewöhnlichen Gedanken, nein, Ihr erlebtet alles mit, Ihr waret es selbst, dem dies und jenes Wunderbare begegnete, so sehr nahmet Ihr teil an dem Mann, von dem man Euch erzählte. So erhob sich Euer Geist am Faden einer solchen Geschichte über die Gegenwart, die Euch nicht so schön, nicht so anziehend dünkte; so bewegte sich dieser Geist in fremden, höheren Räumen freier und ungebundener, das Märchen wurde Euch zur Wirklichkeit, oder, wenn Ihr lieber wollet, die Wirklichkeit wurde zum Märchen, weil Euer Dichten und Sein im Märchen lebte.“

„Ganz verstehe ich Euch nicht“, erwiderte der junge Kaufmann; „aber Ihr habt recht mit dem, was Ihr sagtet, wir lebten im Märchen oder das Märchen in uns. Sie ist mir noch wohl erinnerlich, jene schöne Zeit; wenn wir Muße dazu hatten, träumten wir wachend; wir stellten uns vor, an wüste, unwirtbare Inseln verschlagen zu sein, wir berieten uns, was wir beginnen sollten, um unser Leben zu fristen, und oft haben wir im dichten Weidengebüsch uns Hütten gebaut, haben von elenden Früchten ein kärgliches Mahl gehalten, obgleich wir hundert Schritte weit zu Hause das beste hätten haben können; ja, es gab Zeiten, wo wir auf die Erscheinung einer gütigen Fee oder eines wunderbaren Zwerges warteten, die zu uns treten und sagen würden: ‚Die Erde wird sich alsobald auftun, wollet dann [65] nur gefälligst herabsteigen in meinen Palast von Bergkrystall und euch belieben lassen, was meine Diener, die Meerkatzen, euch auftischen!‘“

Die jungen Leute lachten, gaben aber ihrem Freunde zu, daß er wahr gesprochen habe. „Noch jetzt“, fuhr ein anderer fort, „noch jetzt beschleicht mich hie und da dieser Zauber; ich würde mich zum Beispiel nicht wenig ärgern über die dumme Fabel, wenn mein Bruder zur Türe hereingestürzt käme und sagte: ‚Weißt du schon das Unglück von unserem Nachbar, dem dicken Bäcker? Er hat Händel gehabt mit einem Zauberer, und dieser hat ihn aus Rache in einen Bären verwandelt, und jetzt liegt er in seiner Kammer und heult entsetzlich‘; ich würde mich ärgern und ihn einen Lügner schelten. Aber wie anders, wenn mir erzählt würde: der dicke Nachbar hab’ eine weite Reise in ein fernes, unbekanntes Land unternommen, sei dort einem Zauberer in die Hände gefallen, der ihn in einen Bären verwandelte. Ich würde mich nach und nach in die Geschichte versetzt fühlen, würde mit dem dicken Nachbar reisen, Wunderbares erleben, und es würde mich nicht sehr überraschen, wenn er in ein Fell gesteckt würde und auf allen vieren gehen müßte.“

So sprachen die jungen Leute; da gab der Scheik wiederum das Zeichen, und alle setzten sich nieder. Der Aufseher der Sklaven aber trat zu den Freigelassenen und forderte sie auf, weiter fortzufahren. Einer unter ihnen zeigte sich bereit, stand auf und hub an, folgendermaßen zu erzählen:


Der arme Stephan.[1]
.     .     .     .     .     .     .     .     .     .     .     .     .     .     .     .     .     .     .


Der Sklave hatte geendet, und seine Erzählung erhielt den Beifall des Scheiks und seiner Freunde. Aber auch durch diese Erzählung wollte sich die Stirne des Scheik nicht entwölken lassen, er war und blieb ernst und tiefsinnig wie zuvor, und die jungen Leute bemitleideten ihn.

„Und doch“, sprach der junge Kaufmann, „und doch kann ich nicht begreifen, wie der Scheik sich an einem solchen Tage


  1. Von G. A. Schöll, nicht von Hauff. Vgl. die Einleitung, oder S. 8, und die Anmerkung am Schlusse des Bandes.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 64–65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_033.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)