Seite:De Wilhelm Hauff Bd 4 029.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Abner, der Jude, der nichts gesehen hat.

Herr! Ich bin aus Mogador, am Strande des großen Meeres[1], und als der großmächtigste Kaiser Muley Ismael[2] über Fetz und Marokko herrschte, hat sich die Geschichte zugetragen, die du vielleicht nicht ungerne hören wirst. Es ist die „Geschichte von Abner, dem Juden, der nichts gesehen hat“.

Juden, wie du weißt, gibt es überall, und sie sind überall Juden: pfiffig, mit Falkenaugen für den kleinsten Vorteil begabt, verschlagen, desto verschlagener, je mehr sie mißhandelt werden, ihrer Verschlagenheit sich bewußt und sich etwas darauf einbildend. Daß aber doch zuweilen ein Jude durch seine Pfiffe zu Schaden kommt, bewies Abner, als er eines Abends zum Tore von Marokko hinaus spazieren ging.

Er schreitet einher, mit der spitzen Mütze[3] auf dem Kopf, in den bescheidenen, nicht übermäßig reinlichen Mantel gehüllt, nimmt von Zeit zu Zeit eine verstohlene Prise aus der goldenen Dose, die er nicht gerne sehen läßt, streichelt sich den Knebelbart, und trotz der umherrollenden Augen, welche ewige Furcht und Besorgnis und die Begierde, etwas zu erspähen, womit etwas zu machen wäre, keinen Augenblick ruhen läßt, leuchtet Zufriedenheit aus seiner beweglichen Miene; er muß diesen Tag gute Geschäfte gemacht haben, und so ist es auch. Er ist Arzt, ist Kaufmann, ist alles, was Geld einträgt; er hat heute einen Sklaven mit einem heimlichen Fehler verkauft, wohlfeil eine Kamelladung Gummi gekauft und einem reichen kranken Mann den letzten Trank, nicht vor seiner Genesung, sondern vor seinem Hintritt bereitet.

Eben war er auf seinem Spaziergang aus einem kleinen Gehölz von Palmen und Datteln getreten, da hörte er lautes Geschrei herbeilaufender Menschen hinter sich; es war ein Haufe kaiserlicher Stallknechte, den Oberstallmeister an der Spitze, die [57] nach allen Seiten unruhige Blicke umherwarfen, wie Menschen, die etwas Verlorenes eifrig suchen.

„Philister“[4], rief ihm keuchend der Oberstallmeister zu, „hast du nicht ein kaiserlich Pferd mit Sattel und Zeug vorüberrennen sehen?“

Abner antwortete: „Der beste Galoppläufer, den es gibt; zierlich klein ist sein Huf, seine Hufeisen sind von vierzehnlötigem Silber, sein Haar leuchtet golden, gleich dem großen Sabbatleuchter in der Schule[5], fünfzehn Fäuste ist er hoch, sein Schweif ist dreiundeinenhalben Fuß lang, und die Stangen seines Gebisses sind von dreiundzwanzigkarätigem Golde.“

„Er ist’s!“ rief der Oberstallmeister. „Er ist’s!“ rief der Chor der Stallknechte. „Es ist der Emir“, rief ein alter Bereuter, „ich habe es dem Prinzen Abdallah zehnmal gesagt, er solle den Emir in der Trense reiten, ich kenne den Emir, ich habe es vorausgesagt, daß er ihn abwerfen würde, und sollte ich seine Rückenschmerzen mit dem Kopfe bezahlen müssen, ich habe es vorausgesagt. – Aber schnell, wohin zu ist er gelaufen?“

„Habe ich doch gar kein Pferd gesehen“, erwiderte Abner lächelnd, „wie kann ich sagen, wohin es gelaufen ist, des Kaisers Pferd?“

Erstaunt über diesen Widerspruch, wollten die Herren vom Stalle eben weiter in Abner dringen, da kam ein anderes Ereignis dazwischen.

Durch einen sonderbaren Zufall, wie es deren so viele gibt, war gerade zu dieser Zeit auch der Leibschoßhund der Kaiserin entlaufen. Ein Haufe schwarzer Sklaven kam herbeigerannt, und sie schrien schon von weitem: „Habt ihr den Schoßhund der Kaiserin nicht gesehen?“

„Es ist kein Hund, den ihr suchet, meine Herrn“, sagte Abner, „es ist eine Hündin.“

„Allerdings!“ rief der erste Eunuch hocherfreut, „Aline, wo bist du?“

„Ein kleiner Wachtelhund“, fuhr Abner fort, „der vor kurzem


  1. D. h. der Atlantische Ozean. Mogador ist eine bedeutende Handelsstadt an der Westküste von Marokko.
  2. Muley Ismael, aus der Dynastie der Aliden oder Hoseini, ein grausamer Tyrann, regierte von 1672 bis 1727.
  3. Seit dem 12. Jahrhundert, besonders aber seit der Kirchenversammlung von 1314 war es den Juden vorgeschrieben, einen spitzen Hut zu tragen, dessen Farben entweder weiß oder gelb war.
  4. Die Bezeichnung „Philister“ ist hier wohl allgemeiner Ausdruck für Semit, da die Philister gleich den Juden ein semitischer Volksstamm waren und neben ihnen in Palästina wohnten.
  5. D. h. die Synagoge.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 56–57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_029.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)