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wie dem Hannibal, auf jenem Felsen hat er gelebt wie Seneca[1], und seine letzten Tage waren eines Sokrates würdig.“

„In diesem Punkt werden wir nimmer einig“, erwiderte der alte Thierberg. „Was mich betrifft, so kömmt er mir vor, als habe er seine Laufbahn eröffnet wie ein Aventurier, habe sie verfolgt wie ein Räuber, habe mit seinem Raub verfahren wie ein verzweifelter Spieler und habe geendet wie ein – Komödiant!“

„Wir sind noch nicht seine Nachwelt“, bemerkte Robert Willi. „Erst wenn alle Parteien, die persönliches Interesse aussprachen, von der Erde verschwunden sind, dann erst wird man mit klarem Auge richten. Mein Held ist er nicht, aber in seinen italienischen Feldzügen erscheint er wie ein Wesen höherer Art, und dies wenigstens werden auch Sie zugeben, Herr von Thierberg.“

„Es ist möglich“, versetzte der Alte. „Er hat damals mein Staunen, meine Bewunderung erregt; aber wie schnell wurde ich von meiner Vorliebe geheilt! Wenn er damals den Bourbons den Thron zurückgegeben hätte – die Macht hatte er dazu – so wäre er mir wie ein Engel erschienen.“

„Dies war wegen seiner Armee, die anders dachte, unmöglich“, antwortete der General.

„Sie erinnern sich“, fuhr der Alte fort, „daß ich Ihnen öfter von einem französischen Kapitän erzählte, der mich in der Schweiz aus großer Verlegenheit rettete – der einzige Franzose, den ich achte und für den ich noch jetzt alles thun könnte. Mit diesem sprach ich damals auch über diesen Punkt. Ich sagte ihm, daß Frankreich ohne Rettung verloren gehe, wenn es in der ewigen, sich immer von neuem gebärenden Revolution fortfahre. Nur ein König an der Spitze könne es retten. – Er gab es zu; er sagte mir, daß die Bourbons eine große Partei in Paris hätten, und daß mein Gedanke vielleicht erfüllt würde. Ich fragte ihn, wie der Konsul Buonaparte, der damals an der Spitze stand, darüber dächte. ‚Er äußert sich nicht‘, erwiderte mir der Kapitän, ‚aber wenn ich ihn recht verstehe‘, setzte er lächelnd hinzu, ‚so wird [541] Frankreich bald nur einen Meister haben.‘ Ich deutete dies Wort meines neuen Freundes damals auf die Zurückkunft der Bourbons, leider ist es an Buonaparte selbst in Erfüllung gegangen.“

Der junge Willi war schon zu Anfang dieser Rede aufgestanden; er hatte Annas Vater die Geschichte von seinem Kapitän schon einige dutzendmal erzählen gehört, und sein Blut wallte in diesem Augenblick noch zu unruhig, als daß er sie von neuem anhören mochte; er ging mit zögernden Schritten im Saal auf und nieder; als aber der alte Thierberg im Gespräch mit dem General auf die jetzigen Verhältnisse Frankreichs einging, ein Punkt, über den sie niemals in Streit gerieten, gesellte sich auch Rantow zu dem jungen Willi. Er ließ sich von ihm die Geschichte der letzten Wochen noch einmal wiederholen, führte ihn unbemerkt in das nächste Zimmer und dann auf die breite Hausflur. Dort hielt er plötzlich inne und flüsterte dem erstaunten jungen Mann ins Ohr: „Sie dürfen vor mir kein Geheimnis mehr haben; Anna hat mir alles entdeckt, und auf meinen Beistand können Sie sich verlassen.“ Noch einen Augenblick zweifelte Robert, weil ihm diese Nachricht zu neu und unerwartet kam; als aber Rantow ins einzelne einging und ihm erzählte, was in jener Schreckensnacht vorgefallen sei, als er ihm entdeckte, wie ungünstig gegenwärtig die Verhältnisse seien, da stand jener nicht länger an, die Hülfe, die ihm geboten wurde, anzunehmen; er bat Albert, ihm, wenn es möglich wäre, Gelegenheit zu verschaffen, mit Anna zu sprechen.

Der Gast aus der Mark dachte einige Augenblicke nach, ob er dies möglich machen könnte. Anna hatte ihn selbst zwar nie auf ihr Boudoir im Turm eingeladen, aber er hoffte in solcher Begleitung nicht unwillkommen zu sein; das einzige, was ihn hätte abhalten können, war die Furcht vor dem Zorn seines Oheims, im Fall diese Zusammenkunft entdeckt wurde, aber die Lust, wo er nicht selbst die Rolle übernehmen konnte, wenigstens die Intrige zu unterstützen, siegte über jede Bedenklichkeit; er winkte dem jungen Willi, ihm zu folgen. Der Gang nach Annas Turm war ihm bekannt. Nach der Lage ihrer Fenster mußte ihr Gemach noch zwei Stockwerke höher liegen als der Saal. Sie stiegen eine enge, steile Treppe von Holz hinan, die unter jedem Tritte, so behutsam


  1. Der Philosoph Lucius Annäus Seneca (4 v. bis 65 n. Chr.) hatte acht Jahre auf Corsica in der Verbannung gelebt, ehe er zur Erziehung Neros berufen wurde.
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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 540–541. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_273.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)