Seite:De Wilhelm Hauff Bd 3 266.png

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

berechnen, welches Unglück sie sehen, aber die Männer und Weiber wissen es wohl: es ist eine kühle Morgenstunde, die das Werk langer, mühesamer Wochen zerstört und sie ohne Rettung noch tiefer in die Armut senkt.“

„Wahrhaftig! Du bist krank, Anna!“ sagte der alte Herr, indem er lächelnd zu ihr trat und, doch nicht ohne leise Besorglichkeit, seine Hand auf ihre schöne Stirne legte. „Du warst ja doch sonst so fröhlich im Herbst, gabst solchen bösen Gedanken niemals Raum und freutest dich mit den Fröhlichen. Bist du krank?“

Anna errötete und suchte fröhlicher zu scheinen, als sie es war. „Krank bin ich nicht, lieber Vater“, erwiderte sie, „aber ich bin doch alt genug, um sogenannte Herbstgedanken haben zu dürfen. Man kann doch nicht immer fröhlich sein, und – mein Gott!“ rief sie, indem sie errötend aufsprang – „ist er es nicht? – seht dort! –“

„Willi?“ rief Rantow verwundert und wandte sich nach der Seite, wohin Anna deutete.

„Wer denn?“ sagte der Alte, indem er bald seine zitternde und verwirrte Tochter, bald seinen Gast ansah. „Wie kömmst du nur auf Willi? Wer soll den kommen? So sprechet doch!“

Aber in diesem Augenblicke trat auch schon der, dem Annas Ausruf gegolten hatte, herein, es war der alte Gardist. Er war noch nicht ganz auf die Terrasse getreten, als schon Anna, jede andere Rücksicht vergessend, zu ihm hinflog, seine Hand ergriff und eine Frage aussprechen wollte, zu welcher ihr der Atem fehlte. Der alte Soldat zog lächelnd seine Hand zurück, grüßte mit militärischem Anstand und berichtete, in Form eines militärischen Rapports, „daß der General noch diesen Abend zu Hause eintreffen, und –“

„Ist er frei?“ unterbrach ihn Anna.

„– und seinen Sohn mitbringen werde, der auf sein Ehrenwort und die Kaution, die der Herr General gestellt habe, aus der Haft entlassen worden sei.“

In Annas Augen drängten sich Thränen, sie zitterte heftig und setzte sich nieder; der alte Thierberg, durch diesen Anblick überrascht, preßte die Lippen zusammen und blickte seine Tochter [527] unwillig an, und Albert, der in den Zügen seines Oheims las, daß jener ein Geheimnis ahne, dessen Teilnehmer er bis jetzt allein gewesen war, fühlte sich befangen; er fürchtete für Anna, und erst in diesem Augenblick wurde es ihm deutlich, daß es für ihn selbst besser gewesen wäre, sich nie in diese Angelegenheit zu mischen. „Ich lasse dem Herrn General danken und Glück wünschen“, sagte nach einer peinlichen Pause Herr von Thierberg zu dem Grenadier und winkte ihm, zu gehen. „Wünsche nur“, fuhr er fort, indem er auf der Terrasse mit heftigen Schritten auf und ab ging, „wünsche nur, daß die paar Wochen Gefängnis eine gute Wirkung auf den Herrn Weltstürmer gehabt haben mögen! Ein paar Monate hätten nicht schaden können, wäre es auch nur gewesen, um das heiße Blut abzukühlen und die vorschnelle Zunge zu fesseln. Aber das alles ist das Erbteil seiner hochweisen Frau Mama! Ein junger Mann von unbeflecktem Adel hätte sich so weit nicht verirrt; aber das gewinnt man bei solchen Heiraten. Weil sie sah, daß man in unserem Zirkel ihre Abkunft nicht vergessen habe, hat sie ihrem Sohn solche tolle, republikanische Ideen eingeprägt und ihn zu einem Thoren, wo nicht zu einem verderblichen Menschen gemacht.“ Diese und andere Worte stieß er schnell und heftig aus, und plötzlich blieb er vor seiner Tochter stehen, sah sie mit grimmigen Blicken an und sagte dann: „Ich glaube jetzt in der That, daß du kränker bist, als ich dachte. Geh’ auf dein Zimmer! – Ich werde mit dem Vetter diesen Abend allein speisen, geh’!“

Das arme Kind ging hinweg, ohne ein Wort zu sagen; sie mochte die Natur ihres Vaters kennen und wissen, daß jeder Widerspruch seinen Zorn steigere, sie mochte auch fühlen, was in diesem Augenblick in seiner Seele vorgehe, wo sie zu wenig Macht über sich besaß, um ihr Geheimnis zu verbergen.

Als sie weggegangen war, schritt der Alte wieder eine Zeitlang schweigend hin und her; dann trat er zu seinem Neffen und fragte mit bewegter Stimme: „Was sagst du zu dem Auftritt, den wir da gesehen haben? Meinst du wirklich, es wäre möglich?“

„Ich kann Sie nicht verstehen, lieber Oheim.“

„Nicht verstehen, Junge? So soll ich es denn selbst in den

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 526–527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_266.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)