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Sie waren unter diesen Worten bis unter das Portal des Hauses getreten; ein Buch lag dort aufgeschlagen, der junge Willi sah es lächelnd an und sagte: „Zum sechstenmal, mein Vater?“

„Zum sechstenmal“, erwiderte jener, indem auch durch seine ernsten Züge ein leichtes Lächeln ging. „Sie sehen, Herr von Rantow, man zieht oft die Kinder nur dazu auf, daß sie ihre Eltern nachher wieder aufziehen. So kann er es nicht recht leiden, daß ich gewisse Bücher oft lese, und doch ist es ein guter Grundsatz, nicht vielerlei Bücher, aber wenige gute öfter zu lesen.“

„Sie haben recht“, erwiderte Rantow, „und darf ich wissen, welches Buch Sie zum sechstenmal lesen?“ Der General bot es ihm schweigend.

„Ah! die schöne Fabel von 1812“, rief Albert, der Feldzug des Grafen Ségur?[1] Nun, ein Gedicht wie dieses darf man immer wieder lesen, besonders wenn man, wie Sie, den Gegenstand kennen gelernt hat.“

„Sie nennen es Gedicht?“ fragte der General. „Da Sie nicht aus Erfahrung sprechen können, ist wohl General Gourgaud[2] Ihr Gewährsmann. Aber ich kann Sie versichern, in diesem Buch ist so furchtbare Wahrheit, so traurige Gewißheit, daß man das Wenige, was Dichtung ist, darüber vergessen kann. Die Figuren in diesem Gemälde leben, man sieht ihren schwankenden Marsch über die Eisfelder, man sieht brave Kameraden im Schnee verscheiden, man sieht ein Riesenwerk, jene große, kampfgeübte Armee, durch die Ungunst des Schicksals in viele tausend traurige Trümmer zerschlagen. Aber ich liebe es, unter diesen Trümmern zu wandeln, ich liebe es, an jene traurigen, über das Eis hinschwankenden Männer mich anzuschließen, denn ich habe ihr Glück und – ihr Unglück geteilt.“

[495] „Ich bewundere nur deine Geduld, Vater“, erwiderte der Sohn; „du kannst diese französischen Tiraden[3], die, wenn man sie in nüchternes Deutsch auflöst, beinahe lächerlich erscheinen, lesen und immer wieder lesen! Ich erinnere mich aus diesem berühmten Buch einer solchen Stelle, die im Augenblick das Gefühl besticht, nachher, mich wenigstens, lächeln machte. Die Armee hat sich in größter Unordnung hinter Wilna zurückgezogen. Die Russen sind auf den Fersen. Eine Zeitlang imponiert ihnen noch die Nachhut des Heeres, aber bald löst sich auch diese auf, und die ersten der Russen, indem sie einen Hohlweg heraufdringen, mischen sich schon mit den letzten der Franzosen. Ségur schließt seine Periode mit den Worten: ‚Ach! es gibt keine französische Armee mehr!‘ – ‚Doch, es gibt noch eine‘, fährt er fort; ‚Ney[4] lebt noch; er reißt dem nächsten das Gewehr aus der Hand‘, u. s. w. Kurz, der edle Marschall thut in übertriebenem Eifer noch einige Schüsse auf den Feind und repräsentiert gleichsam in sich selbst die halbe Million Soldaten, die Napoleon gegen Rußland ins Feld führte. Ist dies nicht mehr als dichterisch, ist dies nicht lächerlich überstiegen?“

„Ich erinnere mich noch recht wohl jenes Moments, und so grausam unser Schicksal, so gedrängt unser Rückzug war, so ließ er uns doch einige Augenblicke frei, diesem Krieger und seiner wahrhaft antiken Größe unsere Bewunderung zu zollen. Wenn du bedenkst, wie es von großer Wichtigkeit war, daß er mit wenigen Tapfern jenes Defilee eine Zeitlang gegen den Feind behauptete, daß er und die Seinen allerdings in diesem Augenblick noch die einzigen wirklichen Kombattanten waren, die den Russen die Spitze boten, so wird dich jener Ausdruck weniger befremden;


  1. Philippe Paul, Graf von Ségur (1780–1873), französischer General, begleitete seit 1802 Napoleon auf seinen Feldzügen und schrieb später seine berühmte „Histoire de Napoléon et de la grande armée pendant l’année 1812“ (Paris 1824), ein durch seine Darstellung ausgezeichnetes, als Kriegsgeschichte aber unzuverlässiges Werk.
  2. Gaspard Gourgaud (1783–1852), französischer General, war heftiger Gegner von Ségurs Werk und schrieb vom militärischen Gesichtspunkt aus ein „Examen critique“ (Paris 1825), über dasselbe.
  3. Vom ital. tirare, d. h. ziehen, bezeichnet einen ausgedehnten, deklamatorischen Wortschwall.
  4. Michel Ney, Herzog von Elchingen, Fürst von der Moßkwa, Marschall und Pair von Frankreich (1769–1815), war einer der ausgezeichnetsten Feldherren Napoleons. Zu seinen kühnsten Thaten gehört sein Übergang über den gefrornen Dnjepr mit der Nachhut des aus Rußland zurückkehrenden Heeres. Nach Napoleons Sturz 1814 sagte er sich von diesem los und schloß sich an Ludwig XVIII. an, bei des Kaisers Rückkehr aber trat er wieder zu diesem über und kämpfte bei Waterloo mit Heldenmut. Vom Gerichtshof der Pairs wurde der ruhmgekrönte Feldherr 1815 zum Tode verurteilt und am 7. Dezember desselben Jahres erschossen.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 494–495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_250.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)