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Hand, von welchem sie, als sein Schritt in den abgefallenen Blättern rauschte, langsam und ruhig ihre schönen Augen erhob; doch auch sie schien betroffen, als es ein junger, städtisch gekleideter Herr war, den sie in dieser Einsamkeit vor sich sah; sie errötete flüchtig, aber sie senkte ihren Blick nicht, der fragend an dem unerwarteten Besuch hing. Der junge Mann verbeugte sich einigemal, ehe er recht wußte, was er sagen wollte. „Ist wohl das schöne Mädchen Kousine Anna?“ war alles, was er in diesem Augenblick zu denken und sich zu fragen vermochte, und erst als er sich diese Frage schnell bejaht hatte, trat er näher zu der jungen Dame, die indessen ihr Buch schloß und von ihrem Bänkchen aufstand. „Bitte um Vergebung“, sagte er, „wenn ich Sie gestört haben sollte; ich fürchte, von dem Wege abgekommen zu sein. Kann ich hier nach dem Schloß des Herrn von Thierberg kommen?“

„Auf diesem Fußpfad nicht wohl, wenn Sie hier nicht bekannt sind“, erwiderte sie mit einer tiefen, aber klangvollen Stimme; „Sie haben oben einen Fußpfad links gelassen, der nach dem Schloß führt.“ Sie verbeugte sich nach diesen Worten, und der junge Mann ging seinen Weg zurück; doch kaum hatte er einige Schritte gemacht, so zog ihn ein unwiderstehliches Gefühl zurück. Das schöne Mädchen stand noch einmal von ihrem Sitz auf, als sie ihn zurückkehren sah, doch diesmal schien Bestürzung ihre Wangen zu färben, und eine gewisse Ängstlichkeit blickte aus ihren großen Augen. Auf die Gefahr hin, für unbescheiden zu gelten, fragte der Reisende: ob er vielleicht die Ehre gehabt habe, mit Fräulein von Thierberg zu sprechen?

„Ich heiße so“, antwortete sie etwas befangen.

„Eh bien, ma chère cousine!“ sagte er lächelnd, indem er sich artig verbeugte, „so habe ich das Vergnügen, Ihnen Ihren Vetter Rantow vorzustellen.“

„Wie, Vetter Albert!“ rief sie freudig. „So haben Sie endlich doch Wort gehalten? Wie wird sich der Vater freuen! Und was macht Onkel und die liebe Tante, und wie sind Sie gereist?“ So drängte sich eine Frage nach der andern über die schönen Lippen, und Vetter Rantow fand, verloren in sein Glück, eine schöne [467] Muhme zu besitzen, keine Worte, alle nach der Reihe zu beantworten. Wie reizend, wie naiv klang ihm die Sprache! Er konnte nicht sagen, daß sie gegen irgend eine Regel des Stils gesündigt hätte, und doch deuchte es ihm, es seien ganz andere Worte, ganz andere Töne, als die er in seinem Vaterland gehört hatte. Er fühlte, er sei zu schnell gereist, als daß er allmählich auf diesen Kontrast vorbereitet worden wäre.

„Dies ist mein Lieblingsspaziergang“, sagte sie, indem sie langsam neben ihm herging. „Zwar ist der Weg im Thal noch angenehmer, der Neckar macht schöne Windungen, alte Burgen schmücken die Höhen – und die unsrige spielt dabei nicht die schlechteste Rolle, wenigstens was das Altertum betrifft – Dörfer und sogar ein Städtchen sieht man Thal auf und ab; aber der Rückweg ins Schloß hinauf ist dann so steil und mühsam, und auf der Straße gehen mir zu viele Leute. Der Wald hier liegt nicht höher als das Schloß, in einem halben Stündchen geht man herüber und ist dann so köstlich einsam, als säße man in seinem Boudoir bei verschlossenen Thüren.“

„Bis dann der Zufall einen Vetter aus Preußen hereinwehen muß, der die köstliche Einsamkeit stört“, unterbrach sie Rantow.

„Im ganzen genommen“, fuhr sie fort, „ist es im Schloß gerade auch nicht geräuschvoll. Es ist so einsam als irgend ein bezaubertes Schloß in ‚Tausendundeine Nacht‘. Außer der Dienerschaft und im hinteren Flügel dem Amtmann, den man nie zu sehen bekömmt, sind wir, der Vater und ich, die einzigen Bewohner; ja die Einsamkeit im Schloß ist oft so schrecklich und traurig, daß ich mich lieber in die Waldeinsamkeit flüchte, wo das Rauschen der Bäume und der Gesang der Vögel doch noch einiges Leben verkünden.“


3.

Überrascht stand der junge Mann stille, als sie aus dem dichten Holz durch eine Wendung des Weges auf einmal dem Schloß gegenüberstanden. Die Bewohner des südlichen Deutschlands sind von Jugend auf an Anblicke dieser Art gewöhnt. Man trifft in

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 466–467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_236.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)