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auszustatten. Allerdings aber hat er sich selbst wohl verstanden und richtig beurteilt, wenn er sich vorzugsweise einen Beobachter und Bildner des vorhandenen und erfahrenen Lebens nennt. Und darin liegt auch wirklich sein Hauptverdienst, die Verwicklungen und Ereignisse des gewöhnlichen Lebens, die Verbindungen und Reibungen wirklich lebender Charaktere zu schildern und durch heitere, oft witzige Aufstellung eines solchen harmonischen Ganzen unterhaltend und belehrend das Gemüt des Lesers anzuregen.

‚Die Bettlerin‘ war 1826 im ‚Morgenblatt‘ erschienen … Die Heldin ist durchgehends bis zur letzten glücklichen Katastrophe als eine leidende, gekränkte, gedrückte Unschuld dargestellt. Freilich sind manche unwahrscheinliche Züge in ihrem Charakter, in ihrer Aufführung und in die Begebenheiten ihres Lebens verwoben, und leicht möchte man das ganze Bild dieses Weibes oder doch ihr Verhältnis zu dem früheren Geliebten, die Szenen einer allzugroßen Anhänglichkeit und Zutraulichkeit während ihrer Verbindung mit einem andern, wenn auch kalten, rohen, mürrischen und grausamen Gatten gefährlich nennen. Die eingeflochtene Geschichte des Portugiesen ist eine schöne Zugabe; sie ist ganz national behandelt …

‚Jud Süß‘ ist ein historischer Stoff … Das geheimnisvolle Dunkel, welches auf mehreren Vorfällen, die mit jener Geschichte verflochten sind, trotz der kurzen Entfernung der Zeit von unsern Tagen liegt, unterstützte die Phantasie des Dichters, und der Patriotismus verlieh seinem Gemälde noch einen höhern Reiz. Den Juden selbst führt er nur einige Male und meist nur in wenigen Augenblicken der Handlung oder Rede auf, aber mit kräftigen Zügen, in klaren Umrissen. Schade, daß ihm der Held des Romans, namentlich in seinem Verhältnis zu der liebenswürdigen Schwester des Juden, weniger gelungen ist. Er besitzt im Gegensatz gegen Süß nicht die gehörige Besonnenheit und moralische Kraft; seine Neigung zu Lea sollte mehr von religiösen und kirchlichen Rücksichten seiner Zeit bekämpft, sie sollte durch sittliche Beweggründe mehr angegriffen werden … Der Schluß ist sehr schön und zieht auf eine magische Weise den Schauplatz des Erzählten durch eine seiner Figuren in die Tage des jetzt lebenden Geschlechts herüber.

… In den ‚Rittern von Marienburg‘ und im ‚Bilde des Kaisers‘ hat er noch Trefflicheres geleistet.“


[263]

Vertrauliches Schreiben
an Herrn
W. A. Spöttlich[1][WS 1],
Vize-Bataillons-Chirurgen a. D. und Mautbeamten in Tempelhof bei Berlin.

Sie werden mich verbinden, verehrter Herr, wenn Sie diese Vorrede lesen, welche ich einer kleinen Sammlung von Novellen vordrucken lasse; ich ergreife nämlich diesen Weg, einiges mit Ihnen zu besprechen, teils weil mir nach sechs unbeantwortet gebliebenen Briefen das Porto bis Tempelhof[2] zu teuer deuchte, teils aber auch, weil Sie vielleicht nicht begreifen, warum ich diese Novellen gerade so geschrieben habe und nicht anders.

Sie werden nämlich nach Ihrer bekannten Weise, wenn Sie „Novellen“ auf dem Titel lesen, die kleinen Augen noch ein wenig zudrücken, auf geheimnisvolle Weise lächeln und, sollte er gerade zugegen sein, Herrn Amtmann Kohlhaupt versichern: „Ich kenne den Mann, es ist alles erlogen, was er schreibt“; und doch würden Sie sich gerade bei diesen Novellen sehr irren. Die besten und berühmtesten Novellendichter: Lopez de Vega[3], Boccaz[4], Goethe,


  1. Gemeint ist der bekannte Romanschriftsteller Wilibald Alexis (mit seinem eigentlichen Namen Wilh. Häring, 1797–1871), den Hauff in Berlin kennen gelernt und sich zum Freunde gemacht hatte. Vgl. auch unsre Einleitung zu den „Novellen“.
  2. Dorf im Süden von Berlin.
  3. Lope Felix de Vega Carpio (1562–1635), der fruchtbarste spanische Dramendichter, hat auch acht Novellen in Prosa geschrieben.
  4. Giovanni Boccaccio (1313–75), der Verfasser des „Decamerone“

Anmerkungen (Wikisource)

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 262–263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_134.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)