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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

darüber schrieb, und oft traf es sich, daß er alle sechs Klassen über einen Gegenstand erschöpfte. Er zündete dann zuerst dem Schlachtopfer ein kleines gelindes Lobfeuer aus Zimtholz an; dann warf er kritischen Weihrauch dazu, daß es große Wolken gab, die dem Publikum die Sinne umnebelten und die Augen beizten. Dann dämpfte er diese niedlichen Opferflammen zu einer düsteren Glut, blies sie dann mit dem kalten Hauch der vierten Klasse frischer an, warf in der fünften einen so großen Holzstoß zu als die Sancta simplicitas in Konstanz dem Huß[WS 1] und fing dann zum sechsten an, den Unglücklichen an dieser mächtigen Lohe des Zornes zu braten und zu rösten, bis er ganz schwarz war.“

„Wie konnte er aber nur mit gutem Gewissen sechserlei so verschiedene Meinungen über einen Gegenstand haben? Das ist ja schändlich!“

„Wie man will. Ich erinnere Sie übrigens an die liberalen und an die ministeriellen Blätter Ihres Landes; wenn heute einer Ihrer Publizisten eine Ode an die Freiheit auf der Posaune geblasen hat und ihm morgen der Herr von … einige Sous mehr bietet, so hält er einen Panegyrikus[WS 2] gegen die linke Seite, als hätte er von je in einem ministeriellen Vorzimmer gelebt.“

„Aber dann geht er förmlich über“, bemerkte der Marquis; „aber Ihr Onkel, der Schuft, hatte zu gleicher Zeit sechs Zungen und zwölf Augen, die Hälfte mehr als der Höllenhund.“

„Die Deutschen haben es von jeher in allen mechanischen Künsten und Handarbeiten weit gebracht“, erwiderte mit großer Ruhe der junge Mann, „so auch in der Kritik. Als mich nun mein Onkel so weit gebracht hatte, daß ich nicht nur ein Buch von dreißig Bogen in zwei Stunden durchlesen, sondern auch den Inhalt einer unaufgeschnittenen Schrift auf ein Haar erraten konnte, wenn ich wußte, von welcher Partei sie war, so gebrauchte er mich zur Kritik. ‚Ich will dir‘, sagte er, ‚die erste, zweite, fünfte und sechste Klasse geben. Die Jugend, wie sie nun einmal heutzutag’ ist, kann nichts mit Maß thun. Sie lobt entweder über alle Grenzen, oder sie schimpft und tadelt unverschämt. Solche Leute, besonders wenn sie ein recht scharfes Gebiß haben, sind übrigens oft nicht mit Gold zu bezahlen. Man legt sie an [461] die Kette, bis man sie braucht, und hetzt sie dann mit unglaublichem Erfolg, denn sie sind auf den Mann dressiert trotz der besten Dogge. Zu den Mittelklassen, zu dem Neutralitätssystem, zu dem verdeckten Tadel, zu dem ruhigen, aber sicheren Hinterhalt gehört schon mehr kaltes Blut.‘

So sprach mein Onkel und übergab mir die Kränze der Gnade und das Schwert der Rache. Alle Tage mußte ich von frühe acht bis ein Uhr rezensieren. Der Onkel schickte mir ein neues Buch, ich mußte es schnell durchlesen und die Hauptstellen bezeichnen. Dann wurden Kritiken von Nr. 1 und 2 entworfen und dem Alten zurückgeschickt. Nun schrieb er selbst 3 und 4, und war dann noch ein Hauptgericht zu exequieren, so ließ er mir sagen: ‚Mein lieber Neffe; nur immer Nr. 5 und 6 draufgesetzt; es kann nicht schaden, nimm ihn ins Teufels Namen tüchtig durch‘; und den ich noch vor einer Stunde mit wahrer Rührung bis zum Himmel erhoben, denselben verdammte ich jetzt bis in die Hölle. Vor Tisch wurden dann die kritischen Arbeiten verglichen, der Onkel that, wie er zu sagen pflegte, Salz hinzu, um das Gebräu pikanter zu machen; dann packte ich alles ein und verschickte die heil- und unheilschweren Blätter an die verschiedenen Journale.“

God damn! Habe ich in meinem Leben dergleichen gehört?“ rief der Lord mit wahrem Grauen; „aber wenn Sie alle Tage nur ein Buch rezensierten, das macht ja im Jahr 365! Gibt es denn in Ihrem Vaterland jährlich selbst nur ein Dritteil dieser Summe?“

„Ha! da kennen Sie unsere gesegnete Litteratur schlecht, wenn Sie dies fragen. So viele gibt es in einer Messe, und wir haben jährlich zwei. Alle Jahre kann man achtzig Romane, zwanzig gute und vierzig schlechte Lust- und Trauerspiele, hundert schöne und miserable Erzählungen, Novellen, Historien, Phantasien etc., dreißig Almanachs, fünfzig Bände lyrischer Gedichte, einige erhabene Heldengedichte in Stanzen oder Hexametern, vierhundert Übersetzungen, achtzig Kriegsbücher rechnen, und die Schul-, Lehr-, Katheder-, Professions-, Konfessionsbücher, die Anweisungen zum frommen Leben, zu Bereitung guten Champagners aus Obst, zu Verlängerung der Gesundheit, die Betrachtungen über die Ewigkeit

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jan Hus soll bei seiner Verbrennung auf dem Scheiterhaufen diese Worte ausgerufen haben, als eine Frau weiteres Holz brachte (Wikipedia).
  2. Lobrede, auch im negativen Sinn (siehe Wikipedia).
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 460–461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_232.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)