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als zwanzig Frauen und Fräulein zugegen waren, mit denen er schon in zärtlichen Verhältnissen gestanden hatte. Er half sich durch ausdrucksvolle Liebesblicke, die er allenthalben umherwarf, wie auch durch die eigene Behendigkeit seiner Beinchen, auf welchen er überall umherhüpfte und jeder Dame zuflüsterte: sie allein sei es eigentlich, die sein zartes Herz gefesselt. Die übergroße Anstrengung, zwanzig auf einmal zu lieben, da er es sonst nur auf fünf gebracht hatte, richtete ihn aber dergestalt zu Grunde, daß er endlich elendiglich zusammensank und in seinem Wagen nach Hause gebracht werden mußte.

Die Gesellschaft unterhielt sich ganz angenehm und bewies sich nach Herrn Simons Begriffen sehr gesittet und anständig, denn als er am Abend, nachdem alle sich entfernt hatten, mit seiner Tochter Rebekka das Silber ordnete und zählte, riefen sie einmütig und vergnügt:

„Gott’s Wunder! Gott’s Wunder! Was war das für noble Gesellschaft, für gesittete Leute! Es fehlt auch nicht ein Kaffeelöffelchen, kein Dessertmesserchen oder Zuckerklämmchen ist uns abhanden gekommen! Gott’s Wunder!“




[451]


IV.
Der Festtag im Fegefeuer.
(Fortsetzung.)


 Am Horizont in diesem Jahr
 Ist es geblieben, wie es war.

 M. Claudius.[1]




1) Der junge Garnmacher fährt fort, seine Geschichte zu erzählen.

Das Manuskript, aus welchem wir diese infernalischen Memoiren dechiffrieren und ausziehen, fährt bei jener Stelle, die wir im ersten Teile notgedrungen abbrachen, fort, die Geschichte des jungen deutschen Schneiderbaron zu geben. Er ist aus seiner Vaterstadt Dresden entflohen, er will in die weite Welt, fürs erste aber nach Berlin gehen, und erzählt, was ihm unterwegs begegnete.

„Meine Herren“, fuhr der edle junge Mann fort, „als ich mich umsah, stand ein Mann hinter mir, gekleidet wie ein ehrlicher, rechtlicher Bürger; er fragte mich, wohin meine Reise gehe, und behauptete, sein Weg sei beinahe ganz der meinige, ich solle mit ihm reisen. Ich verstand so viel von der Welt, daß ich einsah, es würde weniger auffallend sein, wenn man einen halberwachsenen Jungen mit einem älteren Mann gehen sieht, als allein. Der Mann entlockte mir bald die Ursache meiner Reise, meine Schicksale, meine Hoffnungen. Er schien sich sehr zu verwundern, als ich ihm von meinem Onkel, dem Herrn von Garnmacher


  1. Erste Strophe von M. Claudius’ „Universalhistorie des Jahrs 1773, oder silbernes A. B. C.“ (in dessen „Sämtlichen Werken“, Bd. 1., S. 78), wo die Verse lauten:

    „Am Firmament in diesem Jahr
    Ists so geblieben wie es war.“

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 450–451. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_227.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)