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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Muß ein so aufgeweckter Sinn den Teufel nicht erfreuen, der an solchen Tagen mehr Seelen für sich gewinnt als das ganze Judenquartier in einer guten Börsenstunde Gulden? Auch diesmal wieder kam ich zu Pfingsten nach Frankfurt. Leuten, die von einem berühmten Belletristen[1] verwöhnt, alles bis aufs kleinste Detail wissen wollen, diene zur Nachricht, daß ich im Weißen Schwanen auf Nr. 45 recht gut wohnte, an der großen Table d’hôte in angenehmer Gesellschaft trefflich speiste, den Küchenzettel mögen sie sich übrigens von dem Oberkellner ausbitten.

Schon in der ersten Stunde bemerkte ich ein Seufzen und Stöhnen, das aus dem Zimmer nebenan zu dringen schien. Ich trat näher, ich hörte deutlich, wie man auf gut Deutsch fluchte und tobte, dann Rechnungen und Bilanzen, die sich in viele Tausende beliefen, nachzählte, und dann wieder wimmerte und weinte, wie ein Kind, das seiner Aufgabe für die Schule nicht mächtig ist.

Teilnehmend, wie ich bin, schellte ich nach dem Kellner und fragte ihn, wer der Herr sei, der nebenan so überaus kläglich sich gebärde?

„Nun“, antwortete er, „das ist der stille Herr!“

„Der stille Herr? Lieber Freund, das gibt mir noch wenig Aufschluß, wer ist er denn?“

„Wir nennen ihn hier im Schwanen den stillen Herrn, oder auch den Seufzer, er ist ein Kaufmann aus Dessau, nennt sich sonst Zwerner, und wohnt schon seit vierzehn Tagen hier.“

„Was thut er denn hier? Ist ihm ein Unglück zugestoßen, daß er so gar kläglich winselt?“

„Ja! das weiß ich nicht“, erwiderte er, „aber seit dem zweiten Tag, daß er hier ist, ist sein einziges Geschäft, daß er zwischen zwölf und ein Uhr in der neuen Judenstraße auf- und abgeht, und dann kommt er zu Tisch, spricht nichts, ißt nichts, und den ganzen Tag über jammert er ganz stille und trinkt Kapwein.“

„Nun, das ist keine schlimme Eigenschaft“, sagte ich, „setzen Sie mich doch heute mittag in seine Nähe.“ Der Kellner versprach es, und ich lauschte wieder auf meinen Nachbar.

[415] „Den 12. Mai“ – hörte ich ihn stöhnen, „Metalliques 843/4, Österreichische Staatsobligationen 873/8, Rothschildsche Lotterie-Lose, der Teufel hat sie erfunden und gemacht! 132. Preußische Staatsschuldscheine. 81! O Rebekka! Rebekka! Wo will das hinaus! 81! Die Preußen! Ist denn gar keine Barmherzigkeit im Himmel?“

So ging es eine Zeitlang fort; bald hörte ich ihn ein Glas Kapwein zu sich nehmen und ganz behäglich mit der Zunge dazu schnalzen, bald jammerte er wieder in den kläglichsten Tönen und mischte die Konsols, die Rothschildschen unverzinslichen, und seine Rebekka auf herzbrechende Weise untereinander. Endlich wurde er ruhiger. Ich hörte ihn sein Zimmer verlassen und den Gang hinabgehen, es war wohl die Stunde, in welcher er durch die neue Judenstraße promenierte.

Der Kellner hatte Wort gehalten. Er wies, als ich in den Speisesaal trat, auf einen Stuhl: „Setzen sich der Herr Doktor nur dorthin“, flüsterte er, „zu Ihrer Rechten sitzt der Seufzer.“ Ich setzte mich, ich betrachtete ihn von der Seite; wie man sich täuschen kann! Ich hatte einen jungen Mann von melancholischem, gespenstigem Aussehen erwartet, wie man sie heutzutage in großen Städten und Romanen trifft, etwa bleichschmachtend und fein wie Eduard, von der Verfasserin der Ourika[2], oder von schwächlichem, beinahe lüderlichem Anblick, wie einige Schopenhauersche[3] oder Pichlersche[4] Helden. Aber gerade das Gegenteil; ich fand einen untersetzten, runden jungen Mann mit frischen, wohlgenährten Wangen und roten Lippen, der aber die trüben Augen beinahe immer niederschlug, und um den hübschen Mund einen weinerlichen Zug hatte, welcher zu diesem frischen Gesicht nicht recht paßte.

Ich versuchte, während ich ihm allerlei treffliche Speisen anbot, einigemale mit ihm ins Gespräch zu kommen, aber immer vergeblich; er antwortete nur durch eine Verbeugung, begleitet


  1. Anspielung auf Carl Heun (H. Clauren).
  2. „Edouard“ und „Ourika“ sind Romane von Claire Lechal de Kersaint, Herzogin de Duras (1779–1828).
  3. S. oben S. 261.
  4. Karoline Pichler (1769–1843), Romanschriftstellerin.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 414–415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_209.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)