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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Alles ist ihnen nicht orthodox, nicht fromm genug. Man glaubt vielleicht, sie selbst sind um so frömmer? O ja, wie man will. Sie gehen gesenkten Hauptes, wagen den Blick nicht zu erheben, wagen kein Weltkind anzuschauen. Ihre Rede ist „Ja ja, nein nein“. Auf weitere Schwüre und dergleichen lassen sie sich nicht ein. Sie sind die Stillen im Lande, denn sie leben einfach und ohne Lärm für sich; doch diese selige Ruhe in dem Herrn verhindert sie nicht, ihre Mitmenschen zu verleumden, zu bestehlen, zu betrügen. Daher kommt es, daß sie einander selbst nicht trauen. Sie vermeiden es, sich öffentlich zu vergnügen, und wer am Sonntag tanzt, ist in ihren Augen ein Ruchloser. Unter sich selbst aber feiern sie Orgien, von denen jeder andere sein Auge beschämt wegwenden würde.

Drum lacht mir das Herz, wenn ich einen Mystiker dieser Art sehe. Sie gehen still durchs Leben und wollen die Welt glauben machen, sie seien von Anbeginn der Welt als extrafeine Sorte erschaffen und plombiert worden, und der heilige Petrus, mein lieber Kousin, werde ihnen einen näheren Weg, ein Seitenpförtchen in den Himmel aufschließen. Aber alle kommen zu mir; Separatisten, Pietisten, Mystiker, wie sie sich heißen mögen, seien sie Kathedermänner oder Schuhmacher[1], alle sind Nr. 1 und 2, sie verneinen, wenn auch nicht im Äußern, denn sie sind Heuchler in ihrem Herzen von Anbeginn.

Ein solcher war nun der fromme Mann am Fenster. „Ihr seid ein Landsmann von mir“, fragte ich nach seinem Gruß, „Ihr seid ein Deutscher?“

„Alle Menschen sind Brüder und gleich vor Gott“, antwortete er; „aber die Frommen sind ihm ein angenehmer Geruch.“

„Da habt Ihr recht“, erwiderte ich, „besonders wenn sie in einer engen Stube Betstunde halten. Seid Ihr schon lange hier in dieser gotteslästerlichen Stadt?“

Er warf einen scheuen Blick auf mich und seufzte: „O welche Freude hat mir der Herr gegeben, daß er einen Erweckten zu mir sandte! Du bist der erste, der mir hier saget, daß dies die Stadt [387] der babylonischen H–, der Sitz des Antichrists ist. Da sprechen sie in ihrem weltlichen Sinne von dem Altertum der Heiden, laufen umher in diesen großen Götzentempeln und nennen alles ‚heiliges Land‘, selbst wenn sie Protestanten sind; aber diese sind oft die Ärgsten.“

„Wie freut es mich, Bruder, dich gefunden zu haben. Sind noch mehrere Brüder und Schwestern hier? Doch hier kann es nicht fehlen; in einer Gemeinde, die der Apostel Paulus selbst gestiftet hat, müssen fromme Seelen sein.“

„Bruder, geh’ mir weg mit dem Apostel Paulus, dem traue ich nur halb; man weiß allerlei von seinem früheren Leben, und nachher, da hat er so etwas Gelehrtes wie unsere Professoren und Pfarrer; ich glaube, durch ihn ist dieses Übel in die Welt gekommen. Zu was denn diese Gelehrtheit, diese Untersuchungen; sie führen zum Unglauben. Die Erleuchtung macht’s, und wenn einer nicht zum Durchbruch gekommen ist, bleibt er ein Sünder. Ein altes Weib, wenn sie erleuchtet ist, kann so gut predigen und lehren in Israel als der gelahrteste Doktor.“

„Du hast recht, Bruder“, erwiderte ich ihm; „und ich war in meinem Leben in der Seele nicht vergnügter, nie so heiter gestimmt, als wenn ich einen Bruder Schuster oder eine Schwester Spitälerin das Wort verkündigen hörte. War es auch lauterer Unsinn, was sie sprach, so hatte es ihr doch der Geist eingegeben, und wir alle waren zerknirscht. Doch sage mir, wie kommst du ins Haus dieser Gottlosen?“

„Bruder, in der Stadt Dresden im Sachsenland, wo es mehr Erleuchtete gibt als irgendwo, da wohnte ich neben ihrem Haus. Damals war sie ein Weltkind und lachte, wenn die Frommen am Sonntag abend in mein Haus wandelten, um eine Stunde bei mir zu halten. Als ich nun hieher kam in dieses Sodom und Gomorra, da gab mir der Geist ein, meine Nachbarin aufzusuchen. Ich fand sie von einem Unglück niedergedrückt. Es ist ihr ganz recht geschehen, denn so straft der Herr den Wandel der Sünder. Aber mich erbarmte doch ihre junge Seele, daß sie so sicherlich abfahren soll dorthin, wo Heulen und Zähnklappern. Ich sprach ihr zu, und sie ging ein in meine Lehren, und ich hoffe, es wird


  1. Anspielung auf den als Mystiker und Theosoph bekannt gewordenen Schuhmacher Jakob Böhme (1575–1624).
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 386–387. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_195.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)