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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

verriegelte Thüre hefteten, denn ich glaubte nicht anders, als ‚Ritter Urian trete auf!‘

Was war natürlicher, als daß bei so lebhafter Einbildungskraft auch mein Herz Feuer fing? Jede Bertha, die ihren Ritter die Feldbinde umhing, jede Ida, die sich auf den Söller begab, um dem den Schloßberg hinabdonnernden Liebsten noch einmal mit dem Schleier zuzuwedeln, jede Agnes, Hulda u. s. w. verwandelte sich unwillkürlich in Amalien.

Doch auch sie war diesem Tribut der Sterblichkeit unterworfen. Aus ihrer Sparbüchse nämlich wurden die Romane angeschafft. Wenn einer gelesen war, so empfing ich ihn, las ihn auch, trug ihn dann wieder in die Leihbibliothek und suchte dort immer die Bücher heraus, welche entweder keinen Rücken mehr hatten, oder vom Lesen so fett geworden waren, daß sie mich ordentlich anglänzten. Das sind so die echten nach unserem Geschmack, dachte ich, und sicher war es ein ‚Rinaldo Rinaldini‘[1], ein ‚Domschütz‘[2], ein alter ‚Überall und Nirgends‘[3], oder sonst einer unserer Lieblinge.

Zu Hause band ich ihn dann in alte lateinische Schriften ein, denn Amalie war sehr reinlich erzogen und hätte, wenn auch das Innere des Romans nicht immer sehr rein war, doch nie mit bloßen Fingern den fetten Glanz ihrer Lieblinge betastet. Ehrerbietig trug ich ihn dann in den Garten hinüber und überreichte ihn; und nie empfing ich ihn zurück, ohne daß mir Amalie die schönsten Stellen mit Strickgarn oder einer Stecknadel bezeichnet hätte. So lasen und liebten wir; unsere Liebe richtete sich nach dem Vorbild, das wir gerade lasen: bald war sie zärtlich und verschämt, bald feurig und stürmisch, ja, wenn Eifersuchten vorkamen, so gaben wir uns alle mögliche Mühe, einen Gegenstand, eine Ursache für unser namenloses Unglück zu ersinnen.

Mein gewöhnliches Verhältnis zu der reichen Kaufmannstochter war übrigens das eines Edelknaben von dunkler Geburt, [321] der an dem Hof eines großen Grafen oder Fürsten lebt, eine unglückliche Leidenschaft zu der schönen Tochter des Hauses bekommt, und endlich von ihr heimliche, aber innige Gegenliebe empfängt. Und wie lebhaft wußte Amalie ihre Rolle zu geben; wie gütig, wie herablassend war sie gegen mich! Wie liebte sie den schönen, ritterlichen Edelknaben, dem kein Hindernis zu schwer war, zu ihr zu gelangen, der den breiten Burggraben (die Entenpfütze in unserm Hof) durchwatet, der die Zinnen des Walles (den Gartenzaun) erstiegen, um in ihr Gartengemach (die Moosbank unter den Akazien) sich zu schleichen. Tausend Dolche (die Nägel auf dem Zaun, die meinen Beinkleidern sehr gefährlich waren), tausend Dolche lauern auf ihn, aber die Liebe führt ihn unbeschädigt zu den Füßen seiner Herrin.

Das einzige Unglück bei unserer Liebe war, daß wir eigentlich gar kein Unglück hatten. Zwar gab es hie und da Grenzstreitigkeiten zwischen dem armen Ritter (meinem Vater) und dem reichen Fürsten (dem Kaufmann), wenn nämlich eines unserer Hühner in seinen Garten hinübergeflogen war und auf seinen Mistbeeten spazieren ging; oder es kam sogar zu wirklicher Fehde, wenn der Fürst einen Herold (seinen Ladendiener) zu uns herüberschickte und um den Tribut mahnen ließ (weil mein Vater eine sehr große Rechnung in dem Kontobuch des Fürsten hatte). Aber dies alles war leider kein nötigendes Unglück für unsere Liebe, und diente nicht dazu, unsere Situationen noch romantischer zu machen.

Die einzige Folge, die aus meinem Lesen und meiner Liebe entstand, war mein hartes Unglück, immer unter den letzten meiner Klasse zu sein und von dem alten Rektor tüchtig Schläge zu bekommen; doch auch darüber belehrte und tröstete mich meine ‚Herrin‘. Sie entdeckte mir nämlich, daß des Herzogs (des Rektors) ältester Prinz um ihre Liebe gebuhlt und sie aus Liebe zu mir den Jüngling abgewiesen habe; er aber habe gewiß unsere Liebe und den Grund seiner Abweisung entdeckt und sie dem alten Vater, dem Rektor, beigebracht, der sich dafür auf eine so unwürdige Art an mir räche. Ich ließ die Gute auf ihrem Glauben, wußte aber wohl, woher die Schläge kamen; der alte Herzog


  1. Titel eines 1799 erschienenen Räuberromans von Christian August Vulpius (1762–1827).
  2. Roman von K. G. Cramer.
  3. Roman von Chr. H. Spieß.
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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 320–321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_162.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)