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Du hörst z. B. von einem Roman reden, der jetzt sehr viel Aufsehen machen soll; man setzt als ganz natürlich voraus, daß du ihn schon gelesen haben müssest, und fragt dich um dein Urteil. Willst du dich nun lächerlich machen und antworten, ich habe ihn nicht gelesen? Nein! du antwortest frisch drauf zu: ‚Er gefällt mir im ganzen nicht übel, obgleich er meinen Forderungen an Romane noch nicht entspricht; er hat manches Tiefe und Originelle, die Entwickelung ist artig erfunden, doch scheint mir hie und da in der Form etwas gefehlt und einige der Charaktere verzeichnet zu sein.‘

Sprichst du so, und hast du Mund und Stirne in kritische Falten gelegt, so wird dir niemand tiefes und gewandtes Urteil absprechen.“

„Dein Gewäsch behalte der Teufel“, entgegnete der Alte mürrisch; „meinst du, ich werde wegen dieser Menschlein, oder gar um dir Spaß zu machen, ästhetische Gesichter schneiden? Da betrügst du dich sehr, Satan; Thee will ich meinetwegen saufen, soviel du willst, aber –“

„Da sieht man es wieder“, wandte ich ein, „wer wird denn in einer honetten Gesellschaft ‚saufen‘? wieviel fehlt dir noch, um heutzutage als gebildet zu erscheinen! Nippen, schlürfen, höchstens trinken – aber da hält schon der Wagen bei dem Dichter, nimm dich zusammen, daß wir nicht Spott erleben, Ahasvere!“

Der Dichter setzte sich zu uns, und der Wagen rollte weiter. Ich sah es dem Alten wohl an, daß ihm, je näher wir dem Ziele unserer Fahrt kamen, desto bänger zu Mut war. Obgleich er schon seit achtzehn Jahrhunderten über die Erde wandelte, so konnte er sich doch so wenig in die Menschen und ihre Verhältnisse finden, daß er alle Augenblicke anstieß. So fragte er z. B. den Dichter unterwegs, ob die Versammlung, in welche wir fahren, aus lauter Christen bestehe, zu welcher Frage jener natürlich große Augen machte, und nicht recht wissen mochte, wie sie hieher komme.

Mit wenigen, aber treffenden Zügen entwarf uns der Dichter den Zirkel, der uns aufnehmen sollte. Die milde und sinnige Frömmigkeit, die in dem zarten Charakter der gnädigen Frau [259] vorwalten sollte; der feierliche Ernst, die stille Größe des ältern Fräuleins, die, wenn gleich Protestantin, doch ganz das Air jener wehmütig heiligen Klosterfrauen habe, die, nachdem sie mit gebrochenen Herzen der Welt Ade gesagt, jetzt ihr ganzes Leben hindurch an einem großartigen, interessanten Schmerz zehren.[AU 1] Das jüngere Fräulein, frisch, rund, blühend, heiter, naiv, sei verliebt in einen Gardelieutenant, der aber, weil er der Ältern nicht sinnig genug sei, nicht zu dem ästhetischen Thee komme. Sie habe die schönsten Stellen in Goethe, Schiller, Tiek u. s. w., welche ihr die Mutter zuvor angestrichen, auswendig gelernt und gäbe sie hie und da mit allerliebster Präzision preis. Sie singt, was nicht anders zu erwarten ist, auf Verlangen italienische Arietten mit künstlichen Rouladen[1]; ihre Hauptforce besteht aber im Walzerspielen.

Die übrige Gesellschaft, einige schöne Geister, einige Kritiker, sentimentale und naive, junge und ältere Damen, freie und andere Fräulein[AU 2] werden wir selbst näher kennen lernen.

Der Wagen hielt, der Bediente riß den Schlag auf und half meinem bangen Mentor heraus; schweigend zogen wir die erleuchtete Treppe hinan; ein lieblicher Ambraduft wallte uns aus

  1. Ganz in der Eile nimmt sich der Herausgeber die Freiheit, den Aufriß des Boudoirs dieser protestantischen Nonne, wie er sich ihn denkt, hier beizufügen; im Fenster stehen Blumen, in der Ecke ein Betpult mit einem gußeisernen Kruzifix; eine Guitarre ist notwendiges Requisit, wenn auch die Eigentümerin höchstens „O Sanctissima“ darauf spielen kann; ein Heiligenbild über dem Sofa, ein mit Flor verhängtes Bild des Verstorbenen oder Ungetreuen, von etzlichem sinnigen Efeu umrankt; sie selbst in weißem oder aschgrauem Kostüm, an der Wand ein Spiegel.
  2. Satan scheint hier zwischen Freifräulein und anderen Fräulein zu unterscheiden, unter jenen versteht er die von gutem Adel, unter letzteren die, welche man sonst Jungfer oder Mamsell heißt; ich finde übrigens, den Unterschied auf diese Art zu bezeichnen, sehr unpassend; denn man wird mir zugeben, daß die bürgerlichen Fräulein oft ebenso frei in ihren Sitten und Betragen sind, als die echten.

  1. Roulade bezeichnet im Gesang eine Reihe der Melodie angehängter, rasch auf- oder absteigender Töne.
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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 258–259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_131.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)