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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

noch Zoraide, sondern eine ganz andere lag in dem Sarg. Er brauchte lange, um sich von dem neuen Schlag des Schicksals zu fassen; endlich überwog doch Mitleid seinen Zorn. Er öffnete sein Glas und flößte ihr die Arznei ein. Sie atmete, sie schlug die Augen auf und schien sich lange zu besinnen, wo sie sei. Endlich erinnerte sie sich des Vorgefallenen; sie stand auf aus dem Sarg und stürzte zu Mustafas Füßen. „Wie kann ich dir danken, gütiges Wesen“, rief sie aus, „daß du mich aus meiner schrecklichen Gefangenschaft befreitest!“ Mustafa unterbrach ihre Danksagungen mit der Frage: Wie es denn geschehen sei, daß sie und nicht Fatme, seine Schwester, gerettet worden sei? Jene sah ihn staunend an. „Jetzt wird mir meine Rettung erst klar, die mir vorher unbegreiflich war“, antwortete sie; „wisse, man hieß mich in jenem Schlosse Fatme, und mir hast du deinen Zettel und den Rettungstrank gegeben.“ Mein Bruder forderte die Gerettete auf, ihm von seiner Schwester und Zoraiden Nachricht zu geben, und erfuhr, daß sie sich beide im Schloß befinden, aber nach der Gewohnheit Thiulis andere Namen bekommen haben; sie heißen jetzt Mirzah und Nurmahal.

Als Fatme, die gerettete Sklavin, sah, daß mein Bruder durch diesen Fehlgriff so niedergeschlagen sei, sprach sie ihm Mut ein und versprach ihm ein Mittel zu sagen, wie er jene beiden Mädchen dennoch retten könne. Aufgeweckt durch diesen Gedanken, schöpfte Mustafa von neuem Hoffnung; und bat sie, dieses Mittel ihm zu nennen, und sie sprach:

„Ich bin zwar erst seit fünf Monaten die Sklavin Thiulis; doch habe ich gleich vom Anfang auf Rettung gesonnen; aber für mich allein war sie zu schwer. In dem innern Hof des Schlosses wirst du einen Brunnen bemerkt haben, der aus zehn Röhren Wasser speit. Dieser Brunnen fiel mir auf; ich erinnerte mich, in dem Hause meines Vaters einen ähnlichen gesehen zu haben, dessen Wasser durch eine geräumige Wasserleitung herbeiströmt; um nun zu erfahren, ob dieser Brunnen auch so gebaut sei, rühmte ich eines Tages vor Thiuli seine Pracht und fragte nach seinem Baumeister. ‚Ich selbst habe ihn gebaut‘, antwortete er, ‚und das, was du hier siehst, ist noch das Geringste; aber das [127] Wasser dazu kommt wenigstens tausend Schritte weit von einem Bach her und geht durch eine gewölbte Wasserleitung, die wenigstens mannshoch ist; und alles dies habe ich selbst angegeben.‘ Als ich dies gehört hatte, wünschte ich mir oft, nur auf einen Augenblick die Stärke eines Mannes zu haben, um einen Stein aus der Seite des Brunnens ausheben zu können: dann könnte ich fliehen, wohin ich wollte. Diese Wasserleitung nun will ich dir zeigen; durch sie kannst du nachts in das Schloß gelangen und jene befreien. Aber du mußt wenigstens noch zwei Männer bei dir haben, um die Sklaven, die das Serail bei Nacht bewachen, zu überwältigen.“

So sprach sie; mein Bruder Mustafa aber, obgleich schon zweimal in seinen Hoffnungen getäuscht, faßte noch einmal Mut und hoffte mit Allahs Hülfe, den Plan der Sklavin auszuführen. Er versprach ihr, für ihr weiteres Fortkommen in ihre Heimat zu sorgen, wenn sie ihm behülflich sein wollte, ins Schloß zu gelangen. Aber ein Gedanke machte ihm noch Sorge, nämlich der, woher er zwei oder drei treue Gehülfen bekommen könnte. Da fiel ihm Orbasans Dolch ein und das Versprechen, das ihm jener gegeben hatte, ihm, wo er seiner bedürfe, zu Hülfe zu eilen, und er machte sich daher mit Fatme aus dem Begräbnis auf, um den Räuber aufzusuchen.

In der nämlichen Stadt, wo er sich zum Arzt umgewandelt hatte, kaufte er um sein letztes Geld ein Roß und mietete Fatme bei einer armen Frau in der Vorstadt ein. Er selbst aber eilte dem Gebirge zu, wo er Orbasan zum erstenmal getroffen hatte, und gelangte in drei Tagen dahin. Er fand bald wieder jene Zelte, und trat unverhofft vor Orbasan, der ihn freundlich bewillkommte. Er erzählte ihm seine mißlungenen Versuche, wobei sich der ernsthafte Orbasan nicht enthalten konnte, hie und da ein wenig zu lachen, besonders, wenn er sich den Arzt Chakamankabudibaba dachte. Über die Verräterei des Kleinen aber war er wütend; er schwur, ihn mit eigener Hand aufzuhängen, wo er ihn finde. Meinem Bruder aber versprach er, sogleich zur Hülfe bereit zu sein, wenn er sich vorher von der Reise gestärkt haben würde. Mustafa blieb daher diese Nacht wieder in Orbasans

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 126–127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_065.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)