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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

alten Rheinwein schauen sollten, konntest du wissen, daß ich gerade heute von dem Patent und Erlaubnisschein, vom Rate auf meine Person ausgestellt, Gebrauch machen werde, um die Rose und eure zwölf Apostel zu begrüßen? Und überdies, war denn heute nicht mein Schalttag?

Meines Erachtens ist es reine üble Gewohnheit, die ich von meinem Großvater angenommen, nämlich hie und da Einschnitte zu machen in den Baum des Jahres und sinnend dabei zu verweilen. Wenn der Mensch nur Neujahr und Ostern, nur Christfest oder Pfingsten feiert, so kommen ihm endlich diese Ruhepunkte in der Geschichte seines Lebens so alltäglich vor, daß er darüber hinweggleitet ohne Erinnerung. Und doch ist es gut, wenn die Seele, sonst immer nach außen gerichtet, auch einmal auf ein paar Stunden einkehrt im eigenen Gasthof ihrer Brust, sich bewirtet an der langen Table d’hôte der Erinnerung und nachher gewissenhaft die Rechnung ad notam schreibt, wie Frau Hurtig[1] dem Ritter. Der Großvater nannte solche Tage seine Schalttage. Nicht daß er etwa ein Bankett veranstaltete mit seinen Freunden, oder den Tag lustig und in Freuden lebte, in Saus und Braus; nein, er kehrte ein bei sich, und seine Seele schmauste in der Kammer, die sie seit fünfundsiebzig Jahren kannte. Noch jetzt, da er längst im kühlen Friedhof ruht, noch jetzt kann ich es seinem holländischen Horaz ansehen, welche Stellen er an solchen Tagen gelesen; noch jetzt, als wäre es gestern geschehen, sehe ich sein großes, blaues Auge sinnend auf den vergelbten Blättern seines Stammbuchs weilen; und wie deutlich sehe ich, wie dieses Auge nach und nach sich füllt, wie eine Thräne in den grauen Wimpern zittert, wie der gebietende Mund sich zusammenpreßt, wie der alte Herr langsam und zögernd die Feder ergreift und „einem seiner Brüder, der geschieden“, das schwarze Kreuz unter den Namen malt.

„Der Herr hält seinen Schalttag“, pflegten die Diener uns zuzuwispern, wenn wir Enkel laut und fröhlich, wie gewöhnlich, die Treppe hinanstürmten; „der Großvater hält seinen Schalttag“, [9] flüsterten wir uns zu und glaubten nicht anders, als er beschere sich selbst den heiligen Christ, weil er ja doch niemand habe, der ihm den Christbaum anzünde. Und war es nicht so, wie wir in kindischer Einfalt glaubten? Zündete er nicht den Christbaum seiner Erinnerung an, flammten nicht tausend flimmernde Kerzen auf, die Lieblingsstunden eines langen Lebens, und schien er nicht, wenn er am Abend des Schalttags still und ruhig im Sessel saß, sich kindlich zu freuen an den Gaben der Vergangenheit?

Es war sein Schalttag wieder eingetreten, als sie ihn hinaustrugen. Ich mußte weinen, als ich dachte, daß der alte Mann seit langer Zeit zum erstenmal wieder in die freie Luft komme. Sie führten ihn den Weg, auf dem ich so oft an seiner Seite gegangen war. Aber nicht lange, so beugten sie über die schwarze Brücke und legten ihn tief in die Erde. „Nun hält er seinen rechten Schalttag“, dachte ich, „aber wundern soll es mich doch, wie der alte Herr wieder da heraufkommen will, denn sie haben doch viele Steine und Rasen auf ihn hinabgeworfen.“ Er kam nicht wieder. Aber sein Bild blieb in meinem Gedächtnis, und als ich herangewachsen war, gehörte es zu meinen liebsten Beschäftigungen, seine feine, offene Stirne, das klare Auge, den gebietenden und doch so freundlichen Mund mir vorzumalen. Mit seinem Bilde stiegen tausend Erinnerungen auf, und seine Schalttage waren mir die Lieblingsstücke in der langen Bildergalerie.

Und ist denn heute nicht der erste September, den auch ich mir zum Schalttag erwählte? Und ich sollte Butterbrot verzehren in seiner Gesellschaft und allerlei Arien absingen hören mit beigefügtem Applaus und Gezwitscher? Nein! Heraus mit dir, köstliches Rezept, das kein Arzt der Erde so köstlich mischt! Hinab zu dir, alte, wahrhaftige Apotheke, um „nach Vorschrift jedesmal einen Römer voll zu nehmen“.

[Vignette]

Es schlug zehn Uhr, als ich die breiten Stufen des Ratskellers hinabstieg; ich durfte hoffen, keinen Zecher mehr zu finden, denn


  1. Wirtin in Shakespeares „König Heinrich IV.“ (Mrs. Quickly).
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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 8–9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_006.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)