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Erde gesehen hatte; was die kühne Phantasie des Morgenlandes Prachtvolles und Herrliches ersinnen konnte, goldene Säulen mit kristallenen Kapitälern, gewölbte Kuppeln von Smaragden und Saphiren, diamantene Wände, deren vielfach gebrochene Strahlen das Auge blendeten, alles war jener unterirdischen Wohnung der Genien beigelegt. Diese Sage, die sich der kindischen Einbildungskraft tief eingedrückt, lebte auf und verwirklichte sich vor den Blicken des staunenden Jünglings. Alle Augenblicke stand er still, von neuem überrascht, hielt die Fackel hoch und staunte und bewunderte, denn in hohen, majestätisch gewölbten Bogen zog sich der Höhle Gang hin und flimmerte und blitzte wie von tausend Kristallen und Diamanten. Aber noch größere Überraschung stand ihm bevor, als sich sein Führer links wandte und ihn in eine weite Grotte führte, die wie der festlich geschmückte Saal des unterirdischen Palastes anzusehen war.

Sein Führer mochte den gewaltigen Eindruck bemerken, den dieses Wunderwerk der Natur auf die Seele des Jünglings machte. Er nahm ihm die Fackel aus der Hand, stieg auf einen vorspringenden Felsen und beleuchtete so einen großen Teil dieser Grotte.

Glänzend weiße Felsen faßten die Wände ein, kühne Schwibbogen, Wölbungen, über deren Kühnheit das irdische Auge staunte, bildeten die glänzende Kuppel; der Tropfstein, aus dem diese Höhle gebildet war, hing voll von vielen Millionen kleiner Tröpfchen, die in allen Farben des Regenbogens den Schein zurückwarfen und als silberreine Quellen in kristallenen Schalen sich sammelten. In grotesken Gestalten standen Felsen umher, und die aufgeregte Phantasie, das trunkene Auge glaubte bald eine Kapelle, bald große Altäre mit reicher Draperie und gotisch verzierte Kanzeln zu sehen. Selbst die Orgel fehlte dem unterirdischen Dome nicht, und die wechselnden Schatten des Fackellichtes, die an den Wänden hin und her zogen, schienen geheimnisvoll erhabene Bilder von Märtyrern und Heiligen in ihren Nischen bald auf-, bald zuzudecken.

So schmückte die christliche Phantasie des jungen Mannes, voll Ehrfurcht vor dem geheimnisvollen Wirken der Gottheit, [225] das unterirdische Gemach zur Kirche aus, während jener Aladdin mit der Wunderlampe die Säle des Paradieses und die ewig glänzenden Lauben der Huris geschaut hätte[1].

Der Führer stieg, nachdem er das Auge des Jünglings für hinlänglich gesättigt halten mochte, wieder herab von seinem Felsen. „Das ist die Nebelhöhle“, sprach er; „man kennt sie wenig im Land, und nur den Jägern und Hirten ist sie bekannt; doch wagen es nicht viele, hereinzugehen, weil man allerlei böse Geschichten von diesen Kammern der Gespenster weiß. Einem, der die Höhle nicht genau kennt, möchte ich nicht raten, sich herabzuwagen; sie hat tiefe Schlünde und unterirdische Wasser, aus denen keiner mehr ans Licht kommt. Auch gibt es geheime Gänge und Kammern, die nur fünf Männern bekannt sind, die jetzt leben.“

„Und der geächtete Ritter?“ fragte Georg.

„Nehmt die Fackel und folget mir“, antwortete jener und schritt voran in einen Seitengang. Sie waren wieder etwa zwanzig Schritte gegangen, als Georg die tiefen Töne einer Orgel zu vernehmen glaubte. Er machte seinen Führer darauf aufmerksam.

„Das ist Gesang“, entgegnete er, „der tönt in diesen Gewölben gar lieblich und voll. Wenn zwei oder drei Männer singen, so lautet es, als sänge ein ganzer Chor Mönche die Hora.“ Immer vernehmlicher tönte der Gesang; je näher sie kamen, desto deutlicher wurden die Wendungen einer angenehmen Melodie. Sie bogen um eine Felsenecke, und von oben herab ertönte ganz nahe die Stimme des Singenden, brach sich an den zackigten Felsenwänden in vielfachem Echo, bis sie sich verschwebend mit den fallenden Tropfen der feuchten Steine und mit dem Murmeln eines unterirdischen Wasserfalles mischte, der sich in eine dunkle, geheimnisvolle Tiefe ergoß.

„Hier ist der Ort“, sprach der Führer, „dort oben in der Felswand ist die Wohnung des unglücklichen Mannes; hört Ihr


  1. Aladdin, der Held des gleichnahmigen Märchens aus „Tausendundeine Nacht“, konnte, im Besitz der Wunderlampe, die Dienste mächtiger Geister erlangen, die ihm die höchsten irdischen Herrlichkeiten und Genüsse zu verschaffen vermochten.
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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 224–225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_1_135.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)