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abweichende Achse. Die Beobachtungen deuten aber eine solche Gesamtkrustendrehung nur nach Westen, also um die Rotationsachse, an; man sollte meinen, daß eine Gesamtkrustendrehung, die um eine wesentlich andere Achse vor sich ginge, im Antlitz der Erde gleichfalls erkennbar sein müßte. Die Beobachtungen deuten also nicht auf die Richtigkeit dieser Lösung hin. Und wie steht es mit der Theorie? Sowohl eine partielle, zum Äquator gerichtete Krustenwanderung als auch eine Gesamtkrustenwanderung nach Westen, also gerade die beiden empirisch angedeuteten Bewegungen, lassen sich theoretisch stützen, nämlich durch die Polfluchtkraft und durch die Kräfte der Gezeiten und der Präzession. Aber für eine Gesamtkrustendrehung, die um eine von der Rotationsachse ganz abweichende Achse vor sich gehen müßte, fehlt offenbar jede theoretische Erklärungsmöglichkeit. Der wohlgemeinte Vermittlungsvorschlag mancher Autoren, man könne die Polwanderungen durch eine Gesamtkrustendrehung erklären, entbehrt also sowohl von empirischer wie theoretischer Seite jeder Stütze. Es erscheint mir deshalb sehr unwahrscheinlich, daß er zutrifft. Wenn diese Lösung aber unbrauchbar ist, so bleibt zur Erklärung der oberflächlichen Polwanderungen nur die innere Achsenverlagerung.

     Bei dem Worte Achsenverlagerung ist es nächstliegend, an eine Verlagerung der Achse innerhalb des sie auf ihrer ganzen Länge umgebenden Mediums zu denken. Wir wollen deshalb das Wort auch nur in diesem Sinne verwenden. Wir können dabei noch zwischen der inneren Achsenverlagerung im Erdkörper und der astronomischen Achsenverlagerung relativ zum Weltraum unterscheiden. Zunächst wollen wir nur von ersterer sprechen.

     An die Frage, ob die nachgewiesenen oberflächlichen Polwanderungen durch innere Achsenverlagerung zustande kommen, kann man sowohl von theoretischer als auch, wie gezeigt werden wird, von empirischer Seite herantreten. Was die theoretische Seite betrifft, so ist von zahlreichen Autoren immer wieder behauptet worden, innere Achsenverlagerungen von der geforderten Größe seien unmöglich; um dies zu belegen, haben z. B. Lambert und Schweydar ausgerechnet, daß selbst eine Verschiebung Asiens um 45 Breitengrade nur eine Verlegung der Hauptträgheitsachse der Erde um 1 bis 2° erzeugen würde. Es ist selbstverständlich, daß diese Behauptungen und Rechnungen so angesehener Geophysiker starken Eindruck bei den Geologen machen, die nicht in der Lage sind, die Voraussetzungen dieser Rechnungen zu prüfen und zu

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Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn Akt.-Ges., 1929, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wegener_Kontinente_161.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)