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Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Zweiter Band welcher das V. bis VIII. Heft enthält
Iphigenie in Aulis – Teil 2

in’s Elend stürzt – Drum rette du uns wieder.

1135
Dein Knie, o Sohn der Göttinn! ist der einz’ge

Altar, zu dem ich Aermste fliehen kann.
Hier lächelt mir kein Freund. Du hast gehört,
was Agamemnon gräßliches beschlossen.
Da steh ich unter rohem Volk – ein Weib,

1140
und unter wilden, meisterlosen Banden,

zu jedem Bubenstück bereit – auch brav,
gewiß recht brav und werth, sobald sie mögen![1]
Versichre du uns deines Schutzes, und
gerettet sind wir! Ohne dich verloren.

Chor.

1145
Gewaltsam ist der Zwang des Bluts! Mit Quaal

gebiert das Weib, und quält sich für’s Gebohrne!

Achilles.
Mein großes Herz kam deinem Wunsch entgegen.
Es weiß zu trauern mit dem Gram und sich
des Glücks zu freuen mit Enthaltsamkeit.

Chor.

1150
Die Klugheit sich zur Führerinn zu wählen,

das ist es, was den Weisen macht!

Achilles.
Es kommen Fälle vor im Menschenleben,
wo’s Weisheit ist, nicht allzuweise seyn,
es kommen andre, wo nichts schöner kleidet,


  1. [63] Gewiß recht brav, sobald sie mögen.) Diese Stelle hat Brumoy zwar sehr gut verstanden, auch den Sinn, durch eine Umschreibung freilich, sehr richtig in’s Französische über getragen, aber ihre wirkliche Schönheit scheint er doch nicht erkannt zu haben, wenn er sagen kann: je crains, de n’avoir été que trop fidelle à mon original, à ses dépens et aux miens. Die Stelle ist voll [64] Wahrheit und Natur. Clytemnestra, ganz erfüllt von ihrer gegenwärtigen Bedrägniß, schildert dem Achilles ihren verlassenen Zustand im Lager der Griechen, und in der Hitze ihres Affekts kommt es ihr nicht darauf an, in ihre Schilderung des griechischen Heers einige harte Worte mit einfließen zu lassen, die man ihr als einer Frau, die sich durch ein außerordentliches Schicksal aus ihrem Gynäceum plözlich in eine ihr so fremde Welt versezt, und der Discretion eines trotzigen Kriegsheers überlassen sieht, gerne zu gute halten wird. Mitten im Strom ihrer Rede aber fällt es ihr ein, daß sie vor dem Achilles steht, der selbst einer davon ist; dieser Gedanke, vielleicht auch ein Stirnrunzeln des Achilles, bringt sie wieder zu sich selbst. Sie will einlenken, und je ungeschickter desto wahrer! Im Griechischen sind es vier kurze hinein geworfene Worte: χρήσιμον δ᾽, ὅταν θέλωσιν[WS 1], woraus im Deutschen freilich noch einmal soviel geworden sind. Prevôt, dessen Bemerkungen sonst voll Scharfsinn sind, verbessert seine Vorgänger hier auf eine sehr unglückliche Art: Clytemnestre, sagt er, veut dire et dit, à ce qu’ il me semble, aussi clairement qu’il étoit nécessaire, qu’Achille peut se servir de son ascendant sur l’armée pour prévenir les desseins d’Agamemnon. Le P. Brumoy n’eût point trahi son auteur en [65] exprimant cette pensée. Nein! Ein so gesuchter Gedanke kann höchstens einem eiskalten Kommentator, nie aber dem Euripides oder seiner Clytemnestra eingekommen seyn!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: χρήςιμον δ᾽, ὅταν θέχωσιν
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Zweiter Band welcher das V. bis VIII. Heft enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1788–1789, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Thalia_Band2_Heft7_013.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)