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zu erreichen vermag. Einseitigkeit und Uebertreibung im Urtheilen, und Ausschweifung im Handeln ist der Charakter der Leidenschaft. Wo dieser in wirkliche Karrikatur übergeht, ist er kein Gegenstand der Kunst mehr. Aber diesen Punkt genau zu unterscheiden ist eben der Vorzug des wahren Genies. Der große Mann scheint nur zu wagen. Er kennt die Gefahr, aber zugleich ahndet er seine Ueberlegenheit.

Eine solche Kühnheit der Darstellung bei dem Dichter und der Toleranz bei dem Publikum ist mit der feinsten Ausbildung vereinbar, und aus dieser Verbindung entsteht ein gewisser heroischer Geschmack, der einen hohen Grad von Gehalt bei einem Volke voraussetzt. Vergleicht man in diesem Punkte den Deutschen und Engländer mit dem Franzosen, so zeigt sich ein merklicher Unterschied. Und wohl uns, wenn wir den männlichen Charakter in unserm Kunstgefühle behaupten! Der französische Künstler glänzt in der Gattung, wo es auf Feinheit ankommt, aber in allen übrigen verfolgt ihn eine gewisse entnervende Aengstlichkeit, die wir ihm nicht zu beneiden Ursache haben. Diese Aengstlichkeit entsteht zwar eigentlich mehr aus einer Uebertreibung des Gefühls für conventionellen Wohlstand. Aber es gibt nur eine ähnliche Uebertreibung des moralischen Gefühls, die uns hindert, menschliche Größe und Kraft auch in ihrer Verwilderung zu erkennen, und das Gold aus den Schlacken heraus zu finden.

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Zweiter Band welcher das V. bis VIII. Heft enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1788–1789, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Thalia_Band2_Heft6_070.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)