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Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Erster Band welcher das I. bis IV. Heft enthält

– Die Figur ruht – der Bildhauer ergriff seinen Herkules im Momente schlafender (vielleicht erschöpfter) Kraft, und dennoch berechnet in dieser Erschlappung das ungeübteste Auge die ganze furchtbare Summe von Wirkungen. Meine Phantasie leiht dem Kolossen Bewegung. Ich sehe eine Figur, wie diese, auf den nemäischen Löwen fallen, und Schrecken und Erstaunen reißen mich schwindelnd fort.

Zunächst an dieser fesselt dich die unnachahmliche Gruppe des Laokoon. Ich werde dir über diß Meisterstück der antiken Kunst wenig neues mehr sagen; du kennst sie bereits, und der Anblick selbst überwältigt alle Beschreibungskraft. Dieser hohe Schmerz im Aug, in den Lippen, die emporgetriebene arbeitende Brust – ein Augenblick, ein Zustand, wo die Natur selbst sich so gern vergißt, so gern ins gräßliche ausartet, bei aller Wahrheit so angenehm, bei aller Treue so delikat behandelt, daß sich das verwöhnteste Auge mit Trunkenheit darauf heften kann. Und wie schmelzend wird dann die ganze Idee durch die untergeordnete Figuren der hilflosen Kinder, welche durch die schreckliche Schlange an den Vater gepreßt werden. Der Ausdruck der Leidenschaft, und die ganze Gruppierung lassen dem forschenden Aug nichts mehr zu beobachten übrig – und nun vertilge in Gedanken diesen ganzen Ausdruck des Leidens, denke dir eben diese Figuren außer dem gewaltsamen Zustande des Affekts, und noch immer werden sie Muster der höchsten Wahrheit und Schönheit

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Erster Band welcher das I. bis IV. Heft enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1785–1787, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Thalia_Band1_Heft1_179.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)