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Cäcilie M.) den folgenden Verlauf beobachten: In relativem Wohlsein trat ein hysterisches Symptom auf: eine quälende, obsedirende Hallucination, eine Neuralgie o. dgl., deren Intensität durch einige Zeit zunahm. Damit zugleich nahm die geistige Leistungsfähigkeit continuirlich ab, und nach einigen Tagen musste jeder uneingeweihte Beobachter die Kranke schwachsinnig nennen. Dann wurde sie von der unbewussten Vorstellung (der Erinnerung an ein oft längst vergangenes psychisches Trauma) entbunden; entweder durch den Arzt in der Hypnose oder dadurch, dass sie plötzlich in einem Aufregungszustand unter lebhaftem Affect die Sache erzählte. Dann wurde sie nicht bloss ruhig und heiter, befreit von dem quälenden Symptom, sondern immer wieder war man erstaunt über den reichen, klaren Intellect, die Schärfe ihres Verstandes und Urtheils. Mit Vorliebe spielte sie (vortrefflich) Schach, und gerne zwei Partien zugleich, was wohl kaum ein Zeichen mangelnder geistiger Synthese ist. Der Eindruck war unabweisbar, dass in solchem Verlauf die unbewusste Vorstellung einen immer wachsenden Theil der psychischen Thätigkeit an sich reisse, dass, je mehr das geschehe, desto kleiner der Antheil des bewussten Denkens werde, bis dieses zur vollen Imbecillität herabsinke; dass sie aber, wenn sie nach dem merkwürdig treffenden Wiener Ausdruck, „beisammen“ war, eine eminente geistige Leistungsfähigkeit besitze.

Wir möchten zum Vergleiche von den Zuständen der Normalen nicht die Concentration der Aufmerksamkeit herbeiziehen, sondern die Präoccupation. Wenn ein Mensch durch eine lebhafte Vorstellung, z. B. eine Sorge „präoccupirt“ ist, wird seine geistige Leistungsfähigkeit in ähnlicher Weise herabgesetzt.

Jeder Beobachter steht überwiegend unter dem Einfluss seiner Beobachtungsobjecte, und wir möchten glauben, dass sich Janet’s Auffassung wesentlich in dem eingehenden Studium jener schwachsinnigen Hysterischen gebildet hat, die im Spitale oder Versorgungshaus sind, weil sie ihrer Krankheit und ihrer dadurch bedingten geistigen Schwäche halber sich im Leben nicht halten können. Unsere Beobachtung gebildeter Hysterischer zwingt uns zu einer wesentlich anderen Meinung von ihrer Psyche. Wir glauben, „dass man unter den Hysterischen die geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und kritischesten Menschen finden kann“. Kein Maass wirklicher, tüchtiger, psychischer Begabung ist durch Hysterie ausgeschlossen, wenn auch oft durch die Krankheit die reale Leistung unmöglich wird. War ja

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_203.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)