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gebannt sind, die Erde erschüttern mögen, aber nie im Lichte erscheinen. In den Fällen Janet’s hat eine völlige Theilung des Reiches stattgefunden. Noch mit einem Rangunterschied. Aber auch dieser schwindet, wenn die beiden Bewusstseinshälften alterniren wie in den bekannten Fällen von Double conscience und sich an Leistungfähigkeit nicht unterscheiden.

Doch kehren wir zu jenen Vorstellungen zurück, die wir bei unsern Kranken als Ursachen ihrer hysterischen Phänomene nachgewiesen haben. Es fehlt viel daran, dass wir alle geradezu „unbewusst“ und „bewusstseinsunfähig“ nennen könnten. Von der vollkommen bewussten Vorstellung, welche einen ungewöhnlichen Reflex auslöst, bis zu jener, die niemals im Wachen, sondern nur in der Hypnose in’s Bewusstsein tritt, geht eine kaum unterbrochene Stufenleiter durch alle Grade der Schattenhaftigkeit und Unklarheit. Trotzdem halten wir den Nachweis erbracht, dass in höhern Graden von Hysterie die Spaltung der psychischen Thätigkeit besteht, und sie allein scheint eine psychische Theorie der Krankheit möglich zu machen.


Was lässt sich nun über Ursache und Entstehung dieses Phänomens mit Wahrscheinlichkeit aussagen oder vermuthen?

P. Janet, dem die Lehre von der Hysterie so ungemein viel verdankt, und mit dem wir in den meisten Punkten übereinstimmen, hat hierüber eine Anschauung entwickelt, die wir nicht zur unserigen machen können:

Janet hält dafür, die „Spaltung der Persönlichkeit“ beruhe auf einer originären geistigen Schwäche (insuffisance psychologique); alle normale geistige Thätigkeit setze eine gewisse Fähigkeit der „Synthese“ voraus, die Möglichkeit, mehrere Vorstellungen zu einem Complexe zu verbinden. Solche synthetische Thätigkeit sei schon die Verschmelzung der verschiedenen Sinneswahrnehmungen zu einem Bilde der Umgebung; diese Leistung der Psyche finde man bei Hysterischen tief unter der Norm stehend. Ein normaler Mensch werde wohl, wenn seine Aufmerksamkeit maximal auf einen Punkt, z. B. auf die Wahrnehmung mittelst eines Sinnes gerichtet ist, vorübergehend die Fähigkeit verlieren, Eindrücke der andern Sinne zu appercipiren, d. h. ins bewusste Denken aufzunehmen. Bei den Hysterischen sei das der Fall, ohne jede besondere Concentration der Aufmerksamkeit. Percipiren sie irgend etwas, so sind sie für die andern Sinneswahrnehmungen unzugänglich. Ja sie seien nicht einmal im Stande, auch nur die Eindrücke eines Sinnes gesammelt aufzufassen; sie können z. B. nur die

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Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_201.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)