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Grenzen schwankendes Ausmaass intracerebraler Erregung; all den Abstufungen des Wachens bis zur Schläfrigkeit und zum wirklichen Schlafe entsprechen niedrigere Erregungsgrade.

Wirkliche Arbeitsleistung des Gehirnes bedingt gewiss einen grösseren Energieverbrauch als die blosse Arbeitsbereitschaft; (wie die oben zum Vergleiche angezogene elektrische Anlage eine grössere Menge von elektrischer Energie in die Leitungen einströmen lassen muss, wenn viele Lampen oder Arbeitsmaschinen eingeschaltet werden). Bei normaler Function wird nicht mehr Energie frei, als sogleich in der Thätigkeit verbraucht wird. Das Gehirn verhält sich aber wie eine solche Anlage von begrenzter Leistungsfähigkeit, welche etwa nicht zu gleicher Zeit grosse Mengen von Licht und von mechanischer Arbeit herstellen könnte. Arbeitet die Kraftübertragung, so ist wenig Energie für die Beleuchtung verfügbar und umgekehrt. So sehen wir, dass es uns bei starker Muskelanstrengung unmöglich ist, andauernd nachzudenken, dass die Concentration der Aufmerksamkeit auf ein Sinnesgebiet die Leistungsfähigkeit der andern Hirnorgane absinken macht, dass also das Gehirn mit einer wechselnden, aber begrenzten, Energiemenge arbeitet.

Die ungleichmässige Vertheilung der Energie wird wohl durch die „attentionelle Bahnung“ (Exner) bedingt, indem die Leitungsfähigkeit der in Anspruch genommenen Bahnen erhöht wird, die der andern absinkt, und so im arbeitenden Gehirn auch die „intracerebrale tonische Erregung“ ungleichmässig vertheilt ist.[1]

Wir erwecken einen Schlafenden, d. h. wir steigern plötzlich das Quantum seiner tonischen intracerebralen Erregung, indem wir einen lebhaften Sinnesreiz auf ihn wirken lassen. Ob dabei Veränderungen in dem cerebralen Blutkreislauf wesentliche Glieder der Causalkette sind, ob die Gefässe primär durch den Reiz erweitert werden, oder ob dies die Folge der Erregung der Hirnelemente ist, das alles ist unentschieden. Sicher ist, dass der durch eine Sinnespforte eindringende Erregungszustand von da aus über das Hirn sich ausbreitet, diffundirt und alle Leitungswege in einen Zustand höherer Bahnung bringt.


  1. Die Auffassung der Energie des Centralnervensystems als einer Quantität von schwankender und wechselnder Vertheilung über das Gehirn ist alt. „La sensibilité,“ sagte Cabanis, „semble se comporter à la manière d’un fluide dont la quantité totale est déterminée et qui, toutes les fois qu’il se jette en plus grande abondance dans un de ses canaux, diminue proportionellement dans les autres.“ (Cit. nach Janet, Etat mental II, p. 277.)
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Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_170.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)