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auf den verletzten Theil, welche die Erregbarkeit der betreffenden Nervenbahnen steigert; aber man kann das kaum so ausdrücken, dass die Hyperalgie durch Vorstellungen bedingt sei.

Nicht anders steht es mit der pathologischen Herabsetzung der Empfindung. Es ist durchaus unerwiesen und unwahrscheinlich, dass die allgemeine Analgesie oder dass die Analgesie einzelner Körpertheile ohne Anästhesie, durch Vorstellungen verursacht sei. Und wenn sich auch die Entdeckung Binet’s und Janet’s vollständig bestätigen sollte, dass die Hemianästhesie durch einen eigenthümlichen psychischen Zustand bedingt sei, durch die Spaltung der Psyche, so wäre das zwar ein psychogenes, aber kein ideogenes Phänomen und wäre darum nach Möbius nicht hysterisch zu nennen.

Können wir so von einer grossen Zahl charakteristischer hysterischer Phänomene nicht annehmen, dass sie ideogen seien, so scheint es richtig, den Satz von Möbius zu reduciren. Wir sagen nicht: „Jene krankhaften Erscheinungen sind hysterisch, welche durch Vorstellungen veranlasst sind“; sondern nur: Sehr viele der hysterischen Phänomene, wahrscheinlich mehr, als wir heute wissen, sind ideogen. Die gemeinschaftliche, fundamentale krankhafte Veränderung aber, welche sowohl den Vorstellungen als auch nicht psychologischen Reizen ermöglicht, pathogen zu wirken, ist eine anomale Erregbarkeit des Nervensystems.[1] Inwieweit diese selbst psychischen Ursprungs ist, das ist eine weitere Frage.




Wenn also nur ein Theil der hysterischen Phänomene ideogen sein dürfte, so sind es doch gerade diese, welche man die specifisch hysterischen nennen darf, und ihre Erforschung, die Aufdeckung ihres psychischen Ursprungs macht den wesentlichsten neueren Fortschritt in der Theorie der Krankheit aus. Es stellt sich nun die weitere Frage: wie kommen sie zu Stande, welches ist der „psychische Mechanismus“ dieser Phänomene?

Dieser Frage gegenüber verhalten sich die beiden von Möbius unterschiedenen Gruppen ideogener Symptome wesentlich verschieden. Diejenigen, bei denen das Krankheitsphänomen der erregenden Vorstellung inhaltlich entspricht, sind relativ verständlich und durchsichtig.


  1. Oppenheim’s „Labilität der Molecüle“. Vielleicht wird es später möglich sein, den obigen sehr vagen Ausdruck durch eine präcisere und inhaltsreichere Formel zu ersetzen.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_166.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)