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Man kann dieselbe Thatsache der nachträglichen Erledigung während der Krankenpflege gesammelter Traumen gelegentlich auch antreffen, wo der Gesammteindruck des Krankseins nicht zu Stande kommt, der Mechanismus der Hysterie aber doch gewahrt wird. So kenne ich eine hochbegabte, an leichten nervösen Zuständen leidende Frau, deren ganzes Wesen die Hysterica bezeugt, wenngleich sie nie den Aerzten zur Last gefallen ist, nie die Ausübung ihrer Pflichten hat unterbrechen müssen. Diese Frau hat bereits 3 oder 4 ihrer Lieben zu Tode gepflegt, jedesmal bis zur vollen körperlichen Erschöpfung; sie ist auch nach diesen traurigen Leistungen nicht erkrankt. Aber kurze Zeit nach dem Tode des Kranken beginnt in ihr die Reproductionsarbeit, welche ihr die Scenen der Krankheit und des Sterbens nochmals vor die Augen führt. Sie macht jeden Tag jeden Eindruck von Neuem durch, weint darüber und tröstet sich darüber, – man möchte sagen in Musse. Solche Erledigung geht bei ihr durch die Geschäfte des Tages durch, ohne dass die beiden Thätigkeiten sich verwirren. Das Ganze zieht chronologisch an ihr vorüber. Ob die Erinnerungsarbeit eines Tages genau einen Tag der Vergangenheit deckt, weiss ich nicht. Ich vermuthe, diess hängt von der Musse ab, welche ihr die laufenden Geschäfte des Haushaltes lassen.

Ausser dieser „nachholenden Thräne“, die sich an den Todesfall mit kurzem Intervall anschliesst, hält diese Frau periodische Erinnerungsfeier alljährlich um die Zeit der einzelnen Katastrophen, und hier folgt ihre lebhafte visuelle Reproduction und ihre Affectäusserung getreulich dem Datum. Ich treffe sie beispielsweise in Thränen und erkundige mich theilnehmend, was es heute gegeben hat. Sie wehrt die Nachfrage halb ärgerlich ab: „Ach nein, es war nur heute der Hofrath N. ... wieder da und hat uns zu verstehen gegeben, dass nichts zu erwarten ist. Ich hab' damals keine Zeit gehabt, darüber zu weinen.“ Sie bezieht sich auf die letzte Krankheit ihres Mannes, der vor 3 Jahren gestorben ist. Es wäre mir sehr interessant zu wissen, ob sie bei diesen jährlich wiederkehrenden Erinnerungsfeiern stets dieselben Scenen wiederholt, oder oh sich ihr jedesmal andere Einzelheiten zum Abreagiren darbieten, wie ich im Interesse meiner Theorie vermuthe. Ich kann aber nichts Sicheres darüber erfahren, die ebenso kluge als starke Frau schämt sich der Heftigkeit, mit welcher jene Reminiscenzen auf sie wirken.[1]


  1. Ich habe einmal mit Verwunderung erfahren, dass ein solches „nachholendes Abreagiren“ – nach anderen Eindrücken als bei einer Krankenpflege – den Inhalt [143] einer sonst räthselhaften Neurose bilden kann. Es war diess bei einem schönen 19jährigen Mädchen, Frl. Mathilde H. . . ., welches ich zuerst mit einer unvollständigen Lähmung der Beine sah, dann aber Monate später zur Behandlung bekam, weil sie ihren Charakter verändert hatte, bis zur Lebensunlust verstimmt, rücksichtslos gegen ihre Mutter, reizbar und unzugänglich geworden war. Das ganze Bild der Patientin gestattete mir nicht die Annahme einer gewöhnlichen Melancholie. Sie war sehr leicht in tiefen Somnambulismus zu versetzen, und ich bediente mich dieser ihrer Eigenthümlichkeit, um ihr jedesmal Gebote und Suggestionen zu ertheilen, die sie im tiefen Schlaf anhörte, mit reichlichen Thränen begleitete, die aber sonst an ihrem Befinden wenig änderten. Eines Tages wurde sie in der Hypnose gesprächig und theilte mir mit, dass die Ursache ihrer Verstimmung die vor mehreren Monaten erfolgte Auflösung ihrer Verlobung sei. Es hätte sich bei näherer Bekanntschaft mit dem Verlobten immer mehr herausgestellt, was der Mutter und ihr unerwünscht gewesen wäre, andererseits seien die materiellen Vortheile der Verbindung zu greifbar gewesen, um den Entschluss des Abbrechens leicht zu machen: so hätten sie Beide eine lange Zeit geschwankt, sie selbst sei in einen Zustand von Unentschlossenheit gerathen, in dem sie apathisch alles über sich ergehen liess, und endlich habe die Mutter für sie das entscheidende Nein gesprochen. Eine Weile später sei sie wie aus einem Traum erwacht, habe begonnen, sich eifrig in Gedanken mit der bereits gefällten Entscheidung zu befassen, das Für und das Wider bei sich abzuwägen, und dieser Vorgang setze sich bei ihr immer noch fort. Sie lebe in jener Zeit der Zweifel, habe an jedem Tag die Stimmung und die Gedanken, die sich für den damaligen Tag geschickt hätten, ihre Reizbarkeit gegen die Mutter sei auch nur in damals geltenden Verhältnissen begründet, und neben dieser Gedankenthätigkeit komme ihr das gegenwärtige Leben wie eine Scheinexistenz, wie etwas Geträumtes vor. – Es gelang mir nicht wieder, das Mädchen zum Reden zu bringen, ich setzte meinen Zuspruch in tiefem Somnambulismus fort, sah sie jedesmal in Thränen ausbrechen, ohne dass sie mir je Antwort gab, und eines Tages, ungefähr um den Jahrestag der Verlobung, war der ganze Zustand von Verstimmung vorüber, was mir als grosser hypnotischer Heilerfolg angerechnet wurde.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_142.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)