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darauf, wo ein Zusammenhang räthselhaft blieb, wo ein Glied in der Kette der Verursachungen zu fehlen schien, und drang dann später in tiefere Schichten der Erinnerung ein, indem ich an jenen Stellen die hypnotische Erforschung oder eine ihr ähnliche Technik wirken liess. Die Voraussetzung der ganzen Arbeit war natürlich die Erwartung, dass eine vollkommen zureichende Determinirung zu erweisen sei; von den Mitteln zur Tieferforschung wird bald die Rede sein.

Die Leidensgeschichte, welche Fräulein Elisabeth erzählte, war eine langwierige, aus mannigfachen schmerzlichen Erlebnissen gewebte. Sie befand sich während der Erzählung nicht in Hypnose, ich liess sie aber liegen und hielt ihre Augen geschlossen, ohne dass ich mich dagegen gewehrt hätte, wenn sie zeitweilig die Augen öffnete, ihre Lage veränderte, sich aufsetzte udgl. Wenn sie ein Stück der Erzählung tiefer ergriff, so schien sie mir dabei spontan in einen der Hypnose ähnlicheren Zustand zu gerathen. Sie blieb dann regungslos liegen und hielt ihre Augen fest geschlossen.

Ich gehe daran wiederzugeben, was sich als oberflächlichste Schicht ihrer Erinnerungen ergab. Als jüngste von drei Töchtern hatte sie, zärtlich an den Eltern hängend, ihre Jugend auf einem Gute in Ungarn verbracht. Die Gesundheit der Mutter war vielfach getrübt durch ein Augenleiden und auch durch nervöse Zustände. So kam es, dass sie sich besonders innig an den heiteren und lebenskundigen Vater anschloss, der zu sagen pflegte, diese Tochter ersetzte ihm einen Sohn und einen Freund, mit dem er seine Gedanken austauschen könne. Soviel das Mädchen an geistiger Anregung bei diesem Verkehr gewann, so entgieng es doch dem Vater nicht, dass sich dabei ihre geistige Constitution von dem Ideal entfernte, welches man gerne in einem Mädchen verwirklicht sieht. Er nannte sie scherzweise „keck und rechthaberisch“, warnte sie vor allzugrosser Bestimmtheit in ihren Urtheilen, vor ihrer Neigung, den Menschen schonungslos die Wahrheit zu sagen, und meinte oft, sie werde es schwer haben, einen Mann zu finden. Thatsächlich war sie mit ihrem Mädchenthum recht unzufrieden, sie war von ehrgeizigen Plänen erfüllt, wollte studieren oder sich in Musik ausbilden, empörte sich bei dem Gedanken, in einer Ehe ihre Neigungen und die Freiheit ihres Urtheiles opfern zu müssen. Unterdess lebte sie im Stolze auf ihren Vater, auf das Ansehen und die sociale Stellung ihrer Familie und hütete eifersüchtig alles, was mit diesen Gütern zusammenhieng. Die Selbstlosigkeit, mit welcher

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Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_120.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)