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des Paares mit einem auxiliären Moment zu vergleichen. Die Aehnlichkeit liegt darin, dass in den ersteren ein Bewusstseinsinhalt geschaffen wurde, welcher, von der Denkthätigkeit des Ich ausgeschlossen, aufbewahrt blieb, während in der letzteren Scene ein neuer Eindruck die associative Vereinigung dieser abseits befindlichen Gruppe mit dem Ich erzwang. Andererseits finden sich auch Abweichungen, die nicht vernachlässigt werden können. Die Ursache der Isolirung ist nicht wie bei Fall III der Wille des Ich, sondern die Ignoranz des Ich, das mit sexuellen Erfahrungen noch nichts anzufangen weiss. In dieser Hinsicht ist der Fall Katharina ein typischer; man findet bei der Analyse jeder auf sexuelle Traumen begründeten Hysterie, dass Eindrücke aus der vorsexuellen Zeit, die auf das Kind wirkungslos geblieben sind, später als Erinnerungen traumatische Gewalt erhalten, wenn sich der Jungfrau oder Frau das Verständniss des sexuellen Lebens erschlossen hat. Die Abspaltung psychischer Gruppen ist sozusagen ein normaler Vorgang in der Entwicklung der Adolescenten, und es wird begreiflich, dass deren spätere Aufnahme in das Ich einen häufig genug ausgenützten Anlass zu psychischen Störungen gibt. Ferner möchte ich an dieser Stelle noch dem Zweifel Ausdruck geben, ob die Bewusstseinsspaltung durch Ignoranz wirklich von der durch bewusste Ablehnung verschieden ist, ob nicht auch die Adolescenten viel häufiger sexuelle Kentniss besitzen, als man von ihnen vermeint, und als sie sich selbst zutrauen.

Eine weitere Abweichung im psychischen Mechanismus dieses Falles liegt darin, dass die Scene der Entdeckung, welche wir als „auxiliäre“ bezeichnet haben, gleichzeitig auch den Namen einer „traumatischen“ verdient. Sie wirkt durch ihren eigenen Inhalt, nicht bloss durch die Erweckung der vorhergehenden traumatischen Erlebnisse, sie vereinigt die Charaktere eines „auxiliären“ und eines traumatischen Momentes. Ich sehe in diesem Zusammenfallen aber keinen Grund eine begriffliche Scheidung aufzugeben, welcher bei anderen Fällen auch eine zeitliche Scheidung entspricht. Eine andere Eigentümlichkeit des Falles Katharina, die übrigens seit Langem bekannt ist, zeigt sich darin, dass die Conversion, die Erzeugung der hysterischen Phänomene nicht unmittelbar nach dem Trauma, sondern nach einem Intervall von Incubation vor sich geht. Charcot nannte dieses Intervall mit Vorliebe die „Zeit der psychischen Ausarbeitung.“

Die Angst, an der Katharina in ihrer Anfällen leidet, ist eine hysterische, d. h. eine Reproduction jener Angst, die bei jedem der

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_115.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)