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Man sagt also dem Patienten, der sich nicht erinnern kann, in welchem Jahr, Monat und an welchem Tag ein gewisses Ereigniss vorfiel, die Jahreszahlen, um die es sich handeln kann, die zwölf Monatsnamen, die 31 Zahlen der Monatstage vor und versichert ihm, dass bei der richtigen Zahl oder beim richtigen Namen sich seine Augen von selbst öffnen würden, oder dass er dabei fühlen werde, welche Zahl die richtige sei. In den allermeisten Fällen entscheiden sich dann die Kranken wirklich für ein bestimmtes Datum und häufig genug (so bei Frau Cecilie N.) liess sich durch vorhandene Aufzeichnungen aus jener Zeit nachweisen, dass das Datum richtig erkannt war. Andere Male und bei ändern Kranken ergab sich aus dem Zusammenhang der erinnerten Thatsachen, dass das so gefundene Datum unanfechtbar war. Die Kranke bemerkte z. B., nachdem man ihr das durch „Auszählen“ gewonnene Datum vorgehalten hatte: „Das ist ja der Geburtstag des Vaters“ und setzte dann fort: „Ja gewiss, weil es der Geburtstag des Vaters war, habe ich ja das Ereigniss (von dem wir sprachen) erwartet.“

Ich kann dieses Thema hier nur streifen. Der Schluss, den ich aus all diesen Erfahrungen zog, war der, dass die als pathogene wichtigen Erlebnisse mit all ihren Nebenumständen treulich vom Gedächtnis festgehalten werden, auch wo sie vergessen scheinen, wo dem Kranken die Fähigkeit fehlt, sich auf sie zu besinnen.[1]


  1. Ich will als Beispiel für die oben geschilderte Technik des Ausforschens im nicht somnambulen Zustand, also bei nicht erweitertem Bewusstsein, einen Fall erzählen, den ich gerade in den letzten Tagen analysirt habe. Ich behandle eine Frau von 38 Jahren, die an Angstneurose (Agoraphobie, Todesangstanfällen u. dgl.) leidet. Sie hat, wie so viele dieser Kranken, eine Abneigung zuzugestehen, dass sie dieses Leiden in ihrem ehelichen Leben acquirirt hat, und möchte es gerne in ihre frühe Jugend zurückschieben. So berichtet sie mir, dass sie als 17jähriges Mädchen den ersten Anfall von Schwindel mit Angst und Ohnmachtsgefühl auf der Strasse ihrer kleinen Heimathstadt bekommen hat, und dass diese Anfälle sich zeitweise wiederholt haben, bis sie vor wenigen Jahren dem jetzigen Leiden den Platz räumten. Ich vermuthe, dass diese ersten Schwindelanfälle, bei denen sich die Angst immer mehr verwischte, hysterische waren, und beschliesse, in die Analyse derselben einzugehen. Sie weiss zunächst nur, dass dieser erste Anfall sie überfiel, während sie ausgegangen war, in den Läden der Hauptstrasse Einkäufe zu machen. – Was wollten Sie denn einkaufen? – Verschiedenes, ich glaube, für einen Ball, zu dem ich eingeladen war. – Wann sollte dieser Ball stattfinden? – Es kommt mir vor, zwei Tage später. – Da muss doch einige Tage vorher etwas vorgefallen sein, was Sie aufregte, was Ihnen einen Eindruck machte. – Ich weiss aber nichts, es sind 21 Jahre her. – Das macht nichts, [96] Sie werden sich doch erinnern. Ich drücke auf Ihren Kopf, und wenn ich mit dem Druck nachlasse, werden Sie an etwas denken oder werden etwas sehen; das sagen Sie dann ........ Ich nehme die Procedur vor; sie schweigt aber – Nun, ist Ihnen nichts eingefallen? – Ich habe an etwas gedacht, aber das kann doch keinen Zusammenhang damit haben. – Sagen Sie’s nur. – Ich habe an eine Freundin gedacht, ein junges Mädchen, die gestorben ist; aber die ist gestorben, wie ich 18 Jahre alt war, also ein Jahr später. – Wir werden sehen, bleiben wir jetzt dabei. Was war mit dieser Freundin? – Ihr Tod hat mich sehr erschüttert, weil ich viel mit ihr verkehrte. Einige Wochen vorher war ein anderes junges Mädchen gestorben, das hat viel Aufsehen in der Stadt gemacht; also dann war es doch, wie ich 17 Jahre alt war. – Sehen Sie, ich habe Ihnen gesagt, man kann sich auf die Dinge verlassen, die einem unter dem Druck der Hand einfallen. Nun aber erinnern Sie sich, was für ein Gedanke war dabei, als Sie den Schwindelanfall auf der Strasse bekamen? – Es war gar kein Gedanke dabei, nur ein Schwindel. – Das ist nicht möglich, solche Zustände gibt es nicht ohne eine begleitende Idee. Ich werde wieder drücken, und der Gedanke von damals wird Ihnen wiederkommen. – Also was ist Ihnen eingefallen? – Mir ist eingefallen: Jetzt bin ich die Dritte. – Was heisst das? – Ich muss bei dem Schwindelanfall gedacht haben: Jetzt sterbe ich auch wie die beiden andern jungen Mädchen. – Das war also die Idee; Sie haben bei dem Anfall an die Freundin gedacht. Da muss Ihnen also ihr Tod einen grossen Eindruck gemacht haben. – Ja gewiss, ich erinnere mich jetzt, wie ich von dem Todesfalle gehört habe, war es mir schrecklich, dass ich auf einen Ball gehen soll, während sie todt ist. Aber ich habe mich so auf den Ball gefreut und war so beschäftigt mit der Einladung; ich habe gar nicht an das traurige Ereigniss denken wollen. (Man bemerke hier die absichtliche Verdrängung aus dem Bewusstsein, welche die Erinnerung an die Freundin pathogen macht.)
    Der Anfall ist jetzt einigermaassen aufgeklärt, ich bedarf aber noch eines occasionellen Momentes, welches die Erinnerung gerade damals provocirt, und bilde mir darüber eine zufällig glückliche Vermuthung. – Sie erinnern sich genau, durch welche Strasse Sie damals gegangen sind? – Freilich, die Hauptstrasse mit ihren alten Häusern, ich sehe sie vor mir. – Nun, und wo hatte die Freundin gewohnt? – In derselben Strasse, ich war eben vorbeigegangen, zwei Häuser weiter ist mir der Anfall gekommen. – Dann hat Sie also das Haus, während Sie vorbeigingen, an die todte Freundin erinnert und der Contrast, von dem Sie damals nichts wissen wollten, Sie neuerdings gepackt.
    Ich gebe mich noch immer nicht zufrieden. Vielleicht war doch noch etwas anderes im Spiel, was bei dem bis dahin normalen Mädchen die hysterische Disposition wachgerufen oder verstärkt hat. Meine Vermuthungen lenken sich auf das periodische Unwohlsein als ein dazu geeignetes Moment, und ich frage: Wissen Sie, wann in dem Monat die Periode kam? – Sie wird unwillig: Das soll ich auch noch wissen? Ich weiss nur, sie war um diese Zeit sehr selten und [97] sehr unregelmässig. Wie ich 17 Jahre alt war, hatte ich sie nur einmal. – Also, wir werden auszählen, wann dieses eine Mal war. – Sie entscheidet sich beim Auszählen mit Sicherheit für einen Monat und schwankt zwischen zwei Tagen unmittelbar vor einem Datum, das einem fixen Festtag angehört. – Stimmt das irgendwie mit der Zeit des Balles? – Sie antwortet kleinlaut: Der Ball war – an dem Feiertag. Und jetzt erinnere ich mich auch, es hat mir einen Eindruck gemacht, dass die einzige Periode, die ich in diesem Jahr hatte, gerade vor dem Ball kommen musste. Es war der erste, zu dem ich geladen war.
    Man kann sich jetzt den Zusammenhang der Begebenheiten unschwer reconstruiren und sieht in den Mechanismus dieses hysterischen Anfalles hinein. Dieses Ergebniss war freilich mühselig genug gewonnen und bedurfte des vollen Zutrauens in die Technik von meiner Seite und einzelner leitender Einfalle, um solche Einzelheiten eines vergessenen Erlebnisses nach 21 Jahren bei einer ungläubigen, eigentlich wachen Patientin wiederzuerwecken. Dann aber stimmte Alles zusammen.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_095.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)