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ihr seliger Vater, der gleichfalls ein schwacher Esser gewesen sei. Als ich mich erkundigte, was sie trinke, kam die Antwort, sie vertrage überhaupt nur dicke Flüssigkeiten, Milch, Kaffee, Cacao und dgl.; so oft sie Quellwasser oder Mineralwasser trinke, verderbe sie sich den Magen. Diess trug nun unverkennbar den Stempel einer nervösen Election. Ich nahm eine Harnprobe mit und fand den Harn sehr concentrirt und mit harnsauren Salzen überladen.

Ich erachtete es demnach für zweckmässig, ihr reichlicheres Trinken anzurathen, und nahm mir vor, auch ihre Nahrungsaufnahme zu steigern. Sie war zwar keineswegs auffällig mager, aber etwas Ueberernährung schien mir immerhin anstrebenswerth. Als ich ihr bei meinem nächsten Besuch ein alkalisches Wasser empfahl und die gewohnte Verwendung der Mehlspeise untersagte, gerieth sie in nicht geringe Aufregung. „Ich werde es thun, weil Sie es verlangen, aber ich sage Ihnen vorher, es wird schlecht ausgehen, weil es meiner Natur widerstrebt, und mein Vater war ebenso.“ Auf die in der Hypnose gestellte Frage, warum sie nicht mehr essen und kein Wasser trinken könne, kam ziemlich mürrisch die Antwort: „Ich weiss nicht“. Am nächsten Tage bestätigte mir die Wärterin, dass Frau Emmy ihre ganze Portion bewältigt und ein Glas des alkalischen Wassers getrunken habe. Sie selbst fand ich aber liegend, tief verstimmt und in sehr ungnädiger Laune. Sie klagte über sehr heftige Magenschmerzen: „Ich habe es Ihnen ja gesagt. Jetzt ist der ganze Erfolg wieder weg, um den wir uns so lange gequält haben. Ich habe mir den Magen verdorben wie immer, wenn ich mehr esse oder Wasser trinke, und muss mich wieder 5 bis 8 Tage ganz aushungern, bis ich etwas vertrage.“ Ich versicherte ihr, sie werde sich nicht aushungern müssen, es sei ganz unmöglich, dass man auf diese Weise sich den Magen verderbe; ihre Schmerzen rührten nur von der Angst her, mit der sie gegessen und getrunken. Offenbar hatte ich ihr mit dieser Aufklärung nicht den geringsten Eindruck gemacht, denn als ich sie bald darauf einschläfern wollte, misslang die Hypnose zum ersten Male, und an dem wüthenden Blicke, den sie mir zuschleuderte, erkannte ich, dass sie in voller Auflehnung begriffen, und dass die Situation sehr ernst sei. Ich verzichtete auf die Hypnose, kündigte ihr an, dass ich ihr eine 24stündige Bedenkzeit lasse, um sich der Ansicht zu fügen, dass ihre Magenschmerzen nur von ihrer Furcht kämen; nach dieser Zeit werde ich sie fragen, ob sie noch meine, man könne sich den Magen auf 8 Tage hinaus durch

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Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_068.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)