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auf ihrer Reise von Abbazia hieher ein fremder Mann 4mal plötzlich ihre Coupéthür aufmachte und sie jedesmal starr ansah. Sie erschrak darüber so sehr, dass sie den Schaffner rief.

Ich verwische alle diese Erinnerungen, wecke sie auf und versichere ihr, dass sie diese Nacht gut schlafen werde, nachdem ich es unterlassen, ihr die entsprechende Suggestion in der Hypnose zu geben. Für die Besserung ihres Allgemeinzustandes zeugt ihre Bemerkung, sie habe heute nichts gelesen, sie lebe so in einem glücklichen Traum, sie, die sonst vor innerer Unruhe beständig etwas thun musste.

11. Mai früh. Auf heute ist das Zusammentreffen mit dem Gynaekologen Dr. N .. angesagt, der ihre älteste Tochter wegen ihrer menstrualen Beschwerden untersuchen soll. Ich finde Frau Emmy in ziemlicher Unruhe, die sich aber jetzt durch geringfügigere körperliche Zeichen äussert als früher; auch ruft sie von Zeit zu Zeit: Ich habe Angst, solche Angst, ich glaube, ich muss sterben. Wovor sie denn Angst habe, ob vor Dr. N ..? Sie wisse es nicht, sie habe nur Angst. In der Hypnose, die ich noch vor dem Eintreffen des Collegen vornehme, gesteht sie, sie fürchte, mich durch eine Aeusserung gestern während der Massage, die ihr unhöflich erschien, beleidigt zu haben. Auch fürchte sie sich vor allem Neuen, also auch vor dem neuen Doctor. Sie lässt sich beschwichtigen, fährt vor Dr. N .. zwar manchmal zusammen, benimmt sich aber sonst gut und zeigt weder Schnalzen noch Sprechhemmung. Nach seinem Fortgehen versetze ich sie neuerdings in Hypnose, um die etwaigen Beste der Erregung von seinem Besuch her wegzunehmen. Sie ist mit ihrem Benehmen selbst sehr zufrieden, setzt auf seine Behandlung grosse Hoffnungen, und ich suche ihr an diesem Beispiel zu zeigen, dass man sich vor dem Neuen nicht zu fürchten brauche, da es auch das Gute in sich schliesse.[1]

Abends ist sie sehr heiter und entledigt sich vieler Bedenklichkeiten in dem Gespräch vor der Hypnose. In der Hypnose frage ich, welches Ereigniss ihres Lebens die nachhaltigste Wirkung geübt habe und am öftesten als Erinnerung bei ihr auftauche. – Der Tod ihres Mannes. – Ich lasse mir dieses Erlebniss mit allen Einzelheiten von ihr erzählen, was sie mit den Zeichen tiefster Ergriffenheit thut, aber ohne alles Schnalzen und Stottern.


  1. Alle solche lehrhafte Suggestionen schlugen bei Frau Emmy fehl, wie die Folge gezeigt hat.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_048.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)