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Hallucination und wehrt die Einmengung des Fremden mit dieser Formel ab.[1] Diese Einschaltung schliesst dann ebenso plötzlich ab, und die Kranke setzt ihre Rede fort, ohne die eben vorhandene Erregung weiterzuspinnen, ohne ihr Benehmen zu erklären oder zu entschuldigen, also wahrscheinlich ohne die Unterbrechung selbst bemerkt zu haben.[2]

Von ihren Verhältnissen erfahre ich Folgendes: Ihre Familie stammt aus Mitteldeutschland, ist seit zwei Generationen in den russischen Ostseeprovinzen ansässig und dort reich begütert. Sie waren 14 Kinder, sie selbst das 13. davon, es sind nur noch 4 am Leben. Sie wurde von einer überthatkräftigen, strengen Mutter sorgfältig, aber mit viel Zwang erzogen. Mit 23 Jahren heiratete sie einen hochbegabten und tüchtigen Mann, der sich als Grossindustrieller eine hervorragende Stellung erworben hatte, aber viel älter war als sie. Er starb nach kurzer Ehe plötzlich am Herzschlag. Dieses Ereigniss sowie die Erziehung ihrer beiden jetzt 16 und 14 Jahre alten Mädchen, die vielfach kränklich waren und an nervösen Störungen litten, bezeichnet sie als die Ursachen ihrer Krankheit. Seit dem Tode ihres Mannes vor 14 Jahren ist sie in schwankender Intensität immer krank gewesen. Vor 4 Jahren hat eine Massagecur in Verbindung mit elektrischen Bädern ihr vorübergehend Erleichterung gebracht, sonst blieben alle ihre Bemühungen, ihre Gesundheit wieder zu gewinnen, erfolglos. Sie ist viel gereist und hat zahlreiche und lebhafte Interessen. Gegenwärtig bewohnt sie einen Herrensitz an der Ostsee in der Nähe einer grossen Stadt. Seit Monaten wieder schwer leidend, verstimmt und schlaflos, von Schmerzen gequält, hat sie in Abbazia vergebens Besserung gesucht, ist seit sechs Wochen in Wien, bisher in Behandlung eines hervorragenden Arztes.

Meinen Vorschlag, sich von den beiden Mädchen, die ihre Gouvernante haben, zu trennen und in ein Sanatorium einzutreten, in dem ich sie täglich sehen kann, nimmt sie ohne ein Wort der Einwendung an.


  1. Die Worte entsprachen in der That einer Schutzformel, die auch im Weiteren ihre Erklärung findet. Ich habe solche Schutzformeln seither bei einer Melancholica beobachtet, die ihre peinigenden Gedanken (Wünsche, dass ihrem Mann, ihrer Mutter etwas Arges zustossen möge, Gotteslästerungen udgl.) auf diese Art zu beherrschen versuchte.
  2. Es handelte sich um ein hysterisches Delirium, welches mit dem normalen Bewusstseinszustande alternirt, ähnlich wie ein echter Tick sich in eine Willkürbewegung einschiebt, ohne dieselbe zu stören und ohne sich mit ihr zu vermengen.
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_039.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)