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ein Verbrechen, denn in ihrem eigenen Leben lagen Recht und Unrecht oft nur kaum noch unterscheidbar neben einander. War doch auch in des Weibes Kinderzeit ein sehr alter Mann ihr guter Freund gewesen, der wegen gleichen Vergehens in der „Sklaverei“ gewesen war und manches Jahr in Ketten die Karre geschoben hatte. Harmlos, wie andre von den Abenteuern ihrer Jugend plaudern, hatte er dem Kinde das erzählt. Nun wohnte er in einem nahen Dorfe und fuhr mit seiner mageren Kracke weißen Sand zur Stadt und schnitzte, wenn er daheim war, Holzschuhe und Sensenstiele. Er hatte oftmals im Vorbeifahren mit dem munteren, auf der Hausthürschwelle sitzenden Kinde ein paar großväterliche Worte geredet, so daß sie allmählich aufpaßte, wenn der weißhaarige Greis mit seinem kümmerlichen Fuhrwerk von der Landstraße in die Stadt kam. Die Holzschühchen, die er ihr einmal mitgebracht hatte, standen noch auf dem kleinen Boden; sie hatte sie neulich für ihr eigen Kind hervorgesucht. – „Wo der alte Mann wohl abgeblieben ist?“ hatte sie bei sich selber gesprochen, indem sie den Staub von den Schühchen wischte

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Theodor Storm: Ein Doppelgänger. Berlin: Paetel, 1887, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Storm_Ein_Doppelgaenger_070.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)