Seite:De Neue Thalia Band4 072.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Vierter und letzter Band, welcher das vierte fünfte und sechste Stück enthält.

kann es kommen, daß wir den halbguten Karakter mit Widerwillen von uns stoßen, und dem ganz schlimmen oft mit schauernder Bewunderung folgen? Daher unstreitig, weil wir bey jenem auch die Möglichkeit des absolut freyen Wollens aufgeben, diesem hingegen es in jeder Aeusserung anmerken, daß er durch einen einzigen Willensakt sich zur ganzen Würde der Menschheit aufrichten kann.

In ästhetischen Urtheilen sind wir also nicht für die Sittlichkeit an sich selbst, sondern bloß für die Freyheit interessiert, und jene kann nur insofern unsrer Einbildungskraft gefallen, als sie die letztere sichtbar macht. Es ist daher offenbare Verwirrung der Grenzen, wenn man moralische Zweckmäßigkeit in ästhetischen Dingen fodert, und um das Reich der Vernunft zu erweitern die Einbildungskraft aus ihrem rechtmäßigen Gebiete verdrängen will. Entweder wird man sie ganz unterjochen müssen, und dann ist es um alle ästhetische Wirkung geschehen, oder sie wird mit der Vernunft ihre Herrschaft theilen, und dann wird für Moralität wohl nicht viel gewonnen seyn. Indem man zwey verschiedene Zwecke verfolgt, wird man Gefahr laufen, beyde zu verfehlen. Man wird

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Vierter und letzter Band, welcher das vierte fünfte und sechste Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band4_072.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)