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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Vierter und letzter Band, welcher das vierte fünfte und sechste Stück enthält.

unserm Freiheitsbedürfniß geschmeichelt wird. Daher beschränkt uns das moralische Urtheil, und demüthigt uns, weil wir uns bey jedem besondern Willensakt gegen das absolute Willensgesetz mehr oder weniger im Nachtheil befinden, und durch die Einschränkung des Willens auf eine einzige Bestimmungsweise, welche die Pflicht schlechterdings fodert, dem Freyheitstriebe der Phantasie widersprochen wird. Dort schwingen wir uns von dem Wirklichen zu dem Möglichen, und von dem Individuum zur Gattung empor; hier hingegen steigen wir vom Möglichen zum Wirklichen herunter, und schließen die Gattung in die Schranken des Individuums ein; kein Wunder also, wenn wir uns bey ästhetischen Urtheilen erweitert, bey moralischen hingegen eingeengt und gebunden fühlen [1].


  1. Diese Auflösung, erinnre ich beyläufig, erklärt uns auch die Verschiedenheit des ästhetischen Eindrucks, den die Kantische Vorstellung der Pflicht auf seine verschiedenen Beurtheiler zu machen pflegt. Ein nicht zu verachtender Theil des Publikums findet diese Vorstellung der Pflicht sehr demüthigend; ein andrer findet sie unendlich erhebend für das Herz. Beyde haben Recht, und der Grund dieses Widerspruchs [64] liegt bloß in der Verschiedenheit des Standpunkts, aus welchem beyde diesen Gegenstand betrachten. Seine bloße Schuldigkeit thun, hat allerdings nichts großes, und insofern das beßte, was wir zu leisten vermögen, nichts als Erfüllung, und noch mangelhafte Erfüllung, unserer Pflicht ist, liegt in der höchsten Tugend nichts begeisterndes. Aber bey allen Schranken der sinnlichen Natur dennoch treu und beharrlich seine Schuldigkeit thun, und in den Fesseln der Materie dem heiligen Geistergesetz unwandelbar folgen, dieß ist allerdings erhebend und der Bewunderung werth. Gegen die Geisterwelt gehalten ist an unsrer Tugend freilich nichts verdienstliches, und wieviel wir es uns auch kosten lassen mögen, wir werden immer unnütze Knechte seyn; gegen die Sinnenwelt gehalten ist sie hingegen ein desto erhabeneres Objekt. Insofern wir also Handlungen moralisch beurtheilen, und sie auf das Sittengesetz beziehen, werden wir wenig Ursache haben, auf unsere Sittlichkeit stolz zu seyn; insofern wir aber auf die Möglichkeit dieser Handlungen sehen, und das Vermögen unsers Gemüths, das denselben zum Grund liegt, auf die Welt der Erscheinungen beziehen, d. h. insofern wir sie ästhetisch beurtheilen, ist uns ein gewisses Selbstgefühl erlaubt, ja es ist sogar nothwendig, weil wir ein Principium in uns aufdecken, [65] das über alle Vergleichung groß und unendlich ist.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Vierter und letzter Band, welcher das vierte fünfte und sechste Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band4_063.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)