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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

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Jetzt war der Augenblick da, den Helden als moralische Person bey uns in Achtung zu setzen, und der Dichter ergriff diesen Augenblick. Wir kennen aus seiner Beschreibung die ganze Macht und Wuth der feindlichen Ungeheuer, und wissen, wie vergeblich aller Widerstand ist. Wäre nun Laokoon bloß ein gemeiner Mensch, so würde er seines Vortheils wahrnehmen, und wie die übrigen Trojaner in einer schnellen Flucht seine Rettung suchen. Aber er hat ein Herz in seinem Busen, und die Gefahr seiner Kinder hält ihn zu seinem eigenen Verderben zurück. Schon dieser einzige Zug macht ihn unsers ganzen Mitleidens würdig. In was für einem Moment auch die Schlangen ihn ergriffen haben möchten, es würde uns immer bewegt und erschüttert haben. Daß es aber gerade in dem Momente geschieht, wo er als Vater uns achtungswürdig wird, daß sein Untergang gleichsam als unmittelbare Folge der erfüllten Vaterpflicht, der zärtlichen Bekümmerniß für seine Kinder vorgestellt wird – dieß entflammt unsre Theilnahme aufs höchste. Er ist es jetzt gleichsam selbst, der sich aus freyer Wahl dem Verderben hingiebt, und sein Tod wird eine Willenshandlung.

S. 
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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_394.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)