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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

der weise Bildhauer die Bekleidung weg, und zeigt uns bloß nackende Figuren; ob er gleich sehr gut weiß, daß dieß im wirklichen Leben nicht der Fall war. Kleider sind ihm etwas zufälliges, dem das nothwendige niemals nachgesetzt werden darf, und die Gesetze des Anstands oder des Bedürfnisses sind nicht die Gesetze der Kunst. Der Bildhauer soll und will uns den Menschen zeigen, und Gewänder verbergen denselben; also verwirft er sie mit Recht.

Eben so wie der griechische Bildhauer die unnütze und hinderliche Last der Gewänder hinwegwirft, um der menschlichen Natur mehr Platz zu machen, so entbindet der griechische Dichter seine Menschen von dem eben so unnützen und eben so hinderlichen Zwang der Konvenienz und von allen frostigen Anstandsgesetzen, die an dem Menschen nur künsteln und die Natur an ihm verbergen. Die leidende Natur spricht wahr, aufrichtig und tiefeindringend zu unserm Herzen in der homerischen Dichtung und in den Tragikern: alle Leidenschaften haben ein freyes Spiel, und die Regel des Schicklichen hält kein Gefühl zurück. Die Helden sind für alle Leiden der Menschheit so gut empfindlich als andere, und eben das macht sie zu Helden, daß sie das Leiden stark und innig fühlen, und

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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_370.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)