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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält.

Erscheinungen, die die Person bestimmt. Die architektonische Schönheit macht dem Urheber der Natur, Anmuth und Grazie machen ihrem Besitzer Ehre. Jene ist ein Talent, diese ein persönliches Verdienst.

Anmuth kann nur der Bewegung zukommen, denn eine Veränderung im Gemüth kann sich nur als Bewegung in der Sinnenwelt offenbaren. Dieß hindert aber nicht, daß nicht auch feste und ruhende Züge Anmuth zeigen könnten. Diese festen Züge waren ursprünglich nichts als Bewegungen, die endlich bey oftmaliger Erneurung habituell wurden, und bleibende Spuren eindrückten. [1]


  1. Daher nimmt Home den Begriff der Anmuth viel zu eng an, wenn er (Grundsätze d. Kritik. II. [39]. Neueste Ausgabe) sagt: „daß, wenn die anmuthigste Person in Ruhe sey, und sich weder bewege noch spreche, wir die Eigenschaft der Anmuth, wie die Farbe im Finstern, aus den Augen verlieren“ Nein, wir verlieren sie nicht aus den Augen, solange wir an der schlafenden Person die Züge wahrnehmen, die ein wohlwollender sanfter Geist gebildet hat; und gerade der schätzbarste Theil der Grazie bleibt übrig, derjenige [142] nehmlich, der sich aus Gebärden zu Zügen verfestete, und also die Fertigkeit des Gemüths in schönen Empfindungen an den Tag legt. Wenn aber der Herr Berichtiger des Homischen Werks seinen Autor durch die Bemerkung zurecht zu weisen glaubte, (Siehe in demselben Band S. 459.) „daß sich die Anmuth nicht bloß auf willkührliche Bewegungen einschränke, daß eine schlafende Person nicht aufhöre reizend zu seyn“ – und warum? „weil während dieses Zustandes die unwillkührlichen, sanften und eben deswegen desto anmuthigern Bewegungen erst recht sichtbar werden“, so hebt er den Begriff der Grazie ganz auf, den Home bloß zu sehr einschränkte. Unwillkührliche Bewegungen im Schlafe, wenn es nicht mechanische Wiederholungen von willkührlichen sind, können nie anmuthig seyn, weit entfernt daß sie es vorzugsweise seyn könnten, und wenn eine schlafende Person reizend ist, so ist sie es keineswegs durch die Bewegungen die sie macht, sondern durch ihre Züge, die von vorhergegangenen Bewegungen zeugen.
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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Dritter Band, welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1793, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band3_141.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)