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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält.

kein Zweifel, daß Amor sehr jung ist. Ueberdies ist er auch äusserst zart gebildet. Nur ein Dichter, wie Homer, ist im Stande, diese Zartheit zu schildern. So spricht er von der Zartheit der Ate, die er auch für eine Göttin erklärt, oder wenigstens von der Zartheit ihrer Füße, wo er sagt:

Ihre Füße sind zart, denn nie berührt sie den Boden,
Ueber die Köpfe der Menschen weg eilt sie mit leichterem Schritte;

und es scheint mir, der Dichter hätte die Zartheit durch keinen glücklicheren Zug mahlen können, als daß er sie nicht auf hartem Grunde, sondern auf etwas Weichem gehen läßt. Eben dieser Beweis für die Zartheit läßt sich aber auch auf Amor anwenden. Nicht nur die Erde, auch Menschenköpfe sogar, die bekanntlich eben nicht immer sehr weich sind, sind ein zu harter Boden für ihn. In dem allerweichsten und zartesten, was sich nur denken läßt, wandelt und wohnt er, nämlich in den Herzen und Seelen der Menschen und Götter. Und selbst in diesen nicht einmal ohne Ausnahme. Er flieht die Seele, die er in einem rauhen Wohnsitz findet, und bleibt nur, wo sie eine sanftere Hütte bewohnt. Da er nun nicht mit den Füßen bloß, sondern mit seinem ganzen Körper, immer das weichste von allem weichen berührt, so muß er auch nothwendig der zarteste aller Zärtlinge seyn. Sonach wäre also seine Jugend und seine Zartheit

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1792, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band2_223.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)