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Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Erster Band welcher das erste bis dritte Stück enthält.

Aber ach! wie leicht, wie leicht verschwinden
Die Gebilde süsser Phantasie,

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Die mit reitzender Magie

Unsre Sinnen sanft umwinden;
Und wie bald verwünschen wir die Welt,
Welcher wir ob ihren Freuden
Noch so gut sind, wenn ein Tropfen herber Leiden

30
Unsers Lebens Taumeltrank vergällt,

Wenn des frohen Wahnes mürbe Mauer
Durch des Schicksals Wink zerfällt,
Und ein Angstgefild in Weh und Trauer
Unsern Blicken sich entgegenstellt.

35
Wenn wir hellern Auges sehen müssen,

Daß sich Mörder in der Freundschaft Banden küssen;
Daß der größten That Unsterblichkeit,
Nur in langsamrer Vergänglichkeit,
Modert, wie die Helden in den Krüften.

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Daß der Liebe Kelch, den uns ein Mädchen beut,

Dessen Trank uns reitzt mit zauberischen Düften,
Einen Augenblick berauschet, um die Zeit
Unsers ganzen Lebens zu vergiften.
Daß die Wohlthat zu der Dankbarkeit

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Ungehört um Gegenhülfe schreit

Aus des eignen Abgrunds unwirthbaren Klüften:
Daß es keinen Glücklichen hier geben kann,
Wenn nicht Wahn und Zufall ihm die Augen schließen.

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Erster Band welcher das erste bis dritte Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1792, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band1_414.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)