„Wenn Sie sich seiner Gunst weiter erfreuen, – welche Dienste können Sie dann der Wissenschaft leisten!“ sagte der Mann mit dem Goethe-Kopf. Seltsam, wie er plötzlich von meiner Leistungskraft überzeugt schien, obwohl er alle Zusendungen meiner Artikel mit Stillschweigen übergangen hatte! Er führte mich zu Tisch, und ich, die ich bis jetzt eine bescheiden abseits Stehende gewesen war, sah mich auf einmal im Mittelpunkt der Gesellschaft. Das verletzte mich aufs tiefste: waren das die freien, geistig hoch stehenden Menschen, zu denen ich bewundernd aufgesehen hatte, deren Verkehr mich in den Strom geistigen Fortschritts reißen sollte?
Auf das angenehmste überrascht wandte ich mich daher meinem Nachbarn zur Rechten zu, der meinen Aufsatz in der Goethe-Zeitschrift gelesen zu haben schien und ein paar kritische Bemerkungen darüber machte. Er war ein bekannter österreichischer Dichter, dessen tapfere Bücher, aus denen das ganze Leid des jahrhundertelang verfolgten und unterdrückten Judentums herausschrie, mich ihn schon lange bewundern ließen.
„Wie stolz müssen Sie sein, so wertvolle Andenken an Goethe Ihr eigen zu nennen, wie die Gedichte an Ihre Frau Großmutter, wie den Ring aus der Hand des Olympiers,“ meinte er.
Ich zog den schmalen Goldreif vom Finger. Er machte die Runde um den Tisch. Alles schien entzückt, dankbar, voll Bewunderung.
„Muß man das dem Fräulein glauben?!“ rief plötzlich eine helle Stimme von der anderen Seite der Tafel. Halb verletzt, halb erstaunt, suchte ich mit den Augen die Sprecherin, – sie hatte offenbar
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 469. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/471&oldid=- (Version vom 31.7.2018)