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25.


Die sieben Raben.


Ein Mann hatte sieben Söhne und immer noch kein Töchterchen, so sehr ers auch wünschte, endlich gab ihm seine Frau wieder gute Hoffnung zu einem Kinde und wie’s zur Welt kam, wars ein Mädchen. Ob es gleich gar schön war, so wars doch auch schmächtig und klein und sollte wegen seiner Schwachheit die Nothtaufe haben. Da schickte der Vater einen der Knaben eilends zur Quelle, Taufwasser zu holen, aber die andern sechs liefen mit. Jeder wollte aber der erste beim Schöpfen seyn und darüber fiel ihnen der Krug in den Brunnen; da standen sie verlegen und wußten nicht, was sie thun sollten und keiner getraute sich heim. Dem Vater ward unter der Weile angst, das Mädchen müßte[1] ungetauft verscheiden und wußte gar nicht, warum die Jungen so lange ausblieben. „Gewiß, sprach er, haben sies wieder über ein Spiel vergessen! und als sie immer nicht kamen, fluchte er im Aerger: „ich wollte, daß die Jungen alle zu Raben würden!“ Kaum war das Wort ausgeredet, so hörte er ein Geschwirr über seinem Haupt in der Luft, blickte auf und sah sieben kohlschwarze Raben auf und davon fliegen.

Die Eltern konnten die Verwünschung nicht mehr zurücknehmen, und so traurig sie über den Verlust ihrer sieben Söhne waren, trösteten sie sich einigermaßen durch ihr liebes Töchterchen, das bald zu Kräften kam und mit jedem Tage schöner ward. Es wußte lange Zeit nicht einmal, daß es Geschwister gehabt, denn


  1. Vorlage: mußte (Druckfehler. Siehe S. 440)
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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 1 (1819). Berlin: G. Reimer, 1819, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_Grimm_1819_V1_133.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)