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ein scharfer Wind über die Höhe und sauste ihnen um die Ohren. Stineli war lauter Freude und Genuß. Ein Mal über das andere rief es aus:

„Sieh, sieh, Rico, die Sonne, wie schön! Jetzt wird's Sommer; sieh, wie es glitzert auf dem See. Es kann gar keinen schöneren See geben, als der ist“, sagte es jetzt zuversichtlich.

„Ja, ja, Stineli, du solltest nur einmal den See sehen, den ich meine!“ und Rico schaute so verloren über den See hin, als finge, was er ansehen wollte, erst dort an, wo man nichts mehr sah.

„Siehst du, dort stehen nicht so schwarze Tannen mit Nadeln, da sind so glänzende, grüne Blätter und große, rote Blumen, und die Berge stehen nicht so hoch und schwarz und so nah, nur weit drüben liegen sie ganz violett, und am Himmel und auf dem See ist alles golden und so still und warm; da tut der Wind nicht so und die Füße hat man nicht so voll Schnee, dann kann man immer so am sonnigen Boden sitzen und zuschauen.“

Stineli war bald hingerissen; es sah schon die roten Blumen und den goldenen See vor sich, das mußte doch so schön sein.

„Vielleicht kannst du wieder einmal dahin gehen an den See und alles wieder sehen; weißt du den Weg?“

„Man geht auf den Maloja. Dort bin ich schon mit dem Vater gewesen: da hat er mir die Straße gezeigt, die geht den ganzen Weg hinunter, immer so hin und her, und weit unten ist der See, aber noch so weit, daß man fast nicht hinkommen kann.“

„Ach, das ist ganz leicht“, meinte Stineli, „du müßtest nur immer weiter gehen, so kämst du sicher zuletzt dahin.“

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Johanna Spyri: Heimatlos. Gotha 1878, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Heimatlos_(Spyri)_021.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)